Ein Wintermahl (eBook). Hubert Mingarelli

Ein Wintermahl (eBook) - Hubert Mingarelli


Скачать книгу
der Arbeit entronnen zu sein, mit sich davontragen.

      Bauer war in der Mitte der Wasserfläche angekommen. Er nahm sein Gewehr in beide Hände und begann, mit dem Kolben auf das Eis einzuschlagen. Splitter flogen. Bauer ließ nicht locker. Dann hielt er einen Augenblick inne und sagte: »Das Eis geht bis auf den Grund.«

      »Was dachtest du denn?«, rief Emmerich ihm zu.

      Bauer schlug wieder auf das Eis ein.

      Ich rief: »Hör endlich auf! Was soll das?«

      Er sah mich an. Ich war sicher, dass er lächelte hinter seinem Schal. Es sah aus, als sei er zufrieden. Was wir ihm sagten, scherte ihn nicht. Von Neuem ließ er Eissplitter fliegen. Jeder Schlag erklang kurz und heftig. Man konnte von hier aus hören, dass das Eis in der Tat bis auf den Grund reichte. Falls er das nur überprüfen wollte, hätte er aufhören können. Dennoch machte er mit Feuereifer weiter.

      Als ich ihn gerade warnen wollte, dass sein Gewehr losgehen könnte, wenn er so weitermachte, sprach Emmerich plötzlich wieder von seinem Sohn, leise, als wollte er nicht, dass Bauer davon etwas mitbekäme: »Überall kann uns ein Unglück zustoßen. Und dann wird sein Leben ruiniert sein.«

      »Du hast ganz recht«, raunte ich ihm zu. »Uns wird etwas anderes einfallen.«

      »Ja«, sagte Emmerich erleichtert, »das wäre mir lieber.«

      »Wir werden etwas finden.«

      »Ich habe Angst, dass ich es allein nicht schaffe.«

      »Wir werden alle drei darüber nachdenken.«

      Emmerich betrachtete den Himmel, nicht lang, nur so lang, wie er offenbar brauchte, um zu erkennen, dass wir zu dritt waren. Darin lag für Emmerich in diesem Moment vielleicht der Trost: dass wir ihm zur Hand gehen würden. Für mich lag der Trost nach wie vor darin, dass kein Wind wehte. Und für Bauer darin, dass er auf dem Eis stand und dessen Dicke erprobte, aus Gründen, die nur er selbst kannte.

      Ich rief ihn. Rief ihn lauter. Es war Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. Emmerich und ich hatten nämlich, obwohl wir beide mit den Füßen stampften, mittlerweile Mühe, uns warm zu halten. Bauer kam zurück, ging zwischen den erstarrten Schilfrohren hindurch und passte auf, kein einziges abzubrechen. Auch dies schien ihn zufriedenzustellen. Was für ein Vergnügen er, ein Mann über vierzig, daran hatte, sich einen Weg zwischen dem Schilf hindurchzubahnen, und wie er darüber lächelte hinter seinem Schal.

      Er sprang auf die Straße, und plötzlich packte mich Bedauern, dass wir vorhin nicht an dem erleuchteten Fenster angehalten hatten, um nach warmer Milch zu fragen.

      6

      Wir gingen weiter, und irgendwann erkundigte ich mich laut, warum wir nicht auf diese Idee gekommen waren: in dem polnischen Dorf warme Milch zu verlangen. Weder Bauer noch Emmerich wussten darauf eine Antwort, und zwischen uns entstand ein merkwürdiges Schweigen, in dem ich förmlich mitlesen konnte, wie sie, ebenso wie ich, von der warmen Milch träumten. Sie trugen sie mit sich und schleppten schwer an der Last. Ich konnte nahe­zu hören, wie Bauer mit sich selbst darüber sprach, obwohl Emmerich zwischen uns ging. Emmerich geriet ins Straucheln und suchte Halt an meinem Arm. Ihr Traum von warmer Milch linderte mir die Schmerzen meines eigenen Traums.

      Wir kamen an eine Kreuzung und fragten uns, ob wir nicht doch besser auf der Karte nachsehen sollten. Aber sie befand sich in der Innentasche von Emmerichs Mantel, und den Mantel zu öffnen hätte sich angefühlt wie ein Bad in Eiswasser. Wir entschieden uns schließlich, diejenige Straße zu nehmen, die südwärts führte, und blödelten herum, dass es im Süden bestimmt nicht so kalt wäre. Ein blasses Licht streifte den Himmel, ebenso weit entfernt und unnütz wie ein Geldstück unter der Erde. Unter dem aluminiumfarbenen Himmel ragten da und dort Bäume in den Feldern auf, auch rund aufgeschichtete Heuballen, die gänzlich von Schnee bedeckt waren. Im Frühjahr hatten wir in den Heuballen welche gefunden. Nicht direkt wir selbst, Emmerich, Bauer und ich, aber wir wussten, dass man dort welche gefunden hatte. Heute aber wäre es sinnlos gewesen, sich durch den Schnee dorthin zu kämpfen, um sie zu durchsuchen. Wer würde sich schon bei einer solchen Kälte in einem Heuhaufen aufhalten? Zumal die Kälte nicht erst gestern eingesetzt hatte.

      Plötzlich sagte Bauer: »Und was, wenn wir keinen finden?«

      »Na, was schon?«, gab Emmerich zurück.

      Bauer ahmte den Schritt eines Greises nach, tat, als würde er sich auf dem Weg noch mehr abmühen als wir, und sagte: »Wie weit wollen wir denn noch gehen, bevor wir umkehren? Wie lange sollen wir noch hier draußen bleiben?«

      »Warten wir wenigstens noch ab, bis es Nacht wird«, entgegnete Emmerich. »Damit es so aussieht, als hätten wir es versucht.«

      Ich sagte: »Aber wenn der Wind wieder losgeht, kehren wir schon vorher um. Was soll’s!«

      Bauer raunte uns zu, dass Graaf uns umbringen würde.

      »Nicht so schnell wie der Wind«, sagte ich darauf halb resigniert, halb fröhlich.

      7

      Der Tagesanbruch lag bereits weit hinter uns, als wir uns entschlossen, das zu tun, wozu unser Kommandant uns hatte aufbrechen lassen. Vor allem aus Dankbarkeit ihm gegenüber. Wir fühlten uns schuldig, weil wir uns vor den Erschießungen gedrückt hatten. Es war an der Zeit, unsere Schuld zurückzuzahlen. Im Innersten glaubten wir nicht daran, welche zu finden. Nur die Dankbarkeit unserem Kommandanten gegenüber trieb uns an, es zu versuchen.

      Graaf kapierte solche Dinge nicht. Er wusste nicht, dass wir uns bemühen konnten. Er dachte, dass wir nur ordentlich arbeiten würden, weil er uns jeden Moment mit einem Schlag auf die Eisenplatte rufen konnte. Aber außer bei den grundlegenden Notwendigkeiten trieben wir quer, und wir suchten immer Wege, um uns zu drücken. Niemals las er in unseren Blicken: »Gib uns ein wenig, und wir werden es dir reichlich vergelten.«

      Es wäre keine große Sache gewesen. Aber da Graaf nichts dergleichen sah, gab er auch nichts. Abgesehen von Schlägen auf die Eisenplatte, wegen Bagatellen.

      Wir mussten uns in Richtung der Gehölze, der Wälder halten. Im Winter hatten sie nur dort noch die Chance, durchzukommen, und wir die Chance, sie zu finden. In den Häusern der Polen brauchten wir nicht mehr zu suchen; die wenigen, die sich bei ihnen verbargen, hatten wir bereits gefunden.

      Zuerst mussten wir also die Straße verlassen, den Traktorspuren folgen und den Wald absuchen. Dort lief man nicht Gefahr, in gefrorenen Wagenspuren auszugleiten, aber man sank bei jedem Schritt in den Schnee ein. Wir würden also weniger balancieren, aber dafür mehr stapfen müssen. Daher hielten wir uns lieber an die Wege. Wenn sie kleine Wälder durchquerten, spähten wir zwischen die Stämme. Wir hielten Ausschau nach Rauch. Manchmal sahen wir uns eine der uns nächstgelegenen Spuren genauer an oder gingen zu einer Stelle, an der wir etwas Auffälliges gesehen hatten, um dann wieder zu unseren eigenen Fußstapfen zurückzukehren. Manchmal gab die Schneekruste nach, und wir gerieten ins Straucheln. Durch den Schnee zu gehen ist keine leichte Sache.

      Wir erreichten eine Anhöhe und stießen auf ziemlich deutliche und tiefe Spuren. Sie konnten von der vergangenen Nacht stammen, von der Nacht davor oder noch älter sein. Wie sollte man das genau feststellen? Doch es war ohnehin nicht so wichtig, da sie zu weit wegführten, um ihnen zu folgen. Sie bewegten sich abwärts zu einer ausgedehnten Ebene, kahl und weiß bis zum Horizont. Eine Weile versuchten wir, aus ihnen schlau zu werden, und ließen es wieder sein.

      Trotzdem verweilten wir an der Stelle. Es war Zeit für eine Zigarettenpause. Wir legten unsere Handschuhe ab. Wieder der Kampf mit der Kälte. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass sie nicht mehr so streng war. Ich sagte zu Emmerich und Bauer, dass die Kälte offenbar ein wenig nachgelassen habe, dass es vielleicht zwei oder drei Grad wärmer geworden sei. Bauer deutete mit einer trägen Kopfbewegung an, dass etwas dran sein könne.

      Wir zogen unsere Handschuhe wieder an und rauchten. Ich wagte nicht, Emmerich anzublicken. Wir waren mit seinem Problem nicht weitergekommen. Ich sah zu Bauer. Er war bis zu den Knien in den Schnee eingesunken, hatte sich auf ein Stück der


Скачать книгу