"Ein Wort, ein Satz…". Группа авторов
sie leiden an einer Alkoholkrankheit. Ich erkenne dies an der Farbe ihrer Haut und an den glänzenden Augen. Aber alleine aus diesem Grund wären sie mir nicht aufgefallen. Säufer sind keine Seltenheit.
Die Männer sind asiatischer Herkunft, vermutlich Chinesen, wie ich ihrem Aussehen und ihrer Sprache nach urteile. Allerdings könnte ich Chinesisch von Koreanisch kaum unterscheiden. Woher also meine Vermutung? Es muss an der Garderobe liegen. Sie wirkt ärmlich, eine Eigenschaft, die ich weniger mit Südkorea in Verbindung bringe, und dass sich zwei Nordkoreaner in diesen Teil von Paris verirrt haben, halte ich zwar für möglich, doch eher für unwahrscheinlich.
Jeder pflegt auf seine Weise einen besonderen Umgang mit seiner Gesichtsmaske. Der ältere, von der Alkoholkrankheit schon deutlich gezeichnete Mann hat seine, ein buntes Einwegmodell, unter das Kinn geschoben; der andere aber, der sich für das klassische blau-weiße Modell entschieden hat, trägt die Maske am Unterarm – wie eine Manschette, die beiden Gummibänder halten das Papier quer der Elle fest. Dies habe ich noch nie beobachtet, doch glaube ich nicht, dass er persönlich diese Technik erfunden hat. Wahrscheinlich ist sie in Teilen Chinas, wo man mit diesem Hygieneutensil längere Erfahrung hat als in Europa, gang und gäbe.
Ferner: Zur Zeit begegnet man in Paris wenig Asiaten. Durch die Reisebeschränkungen bleiben die Besucher aus. Allerdings sind die beiden gewiss keine Touristen. Sie werden zur chinesischen Diaspora gehören, die sich in den letzten Jahren in der nahen Belleville angesiedelt hat.
Auf diesen Umstand werde ich gleich näher eingehen, aber nun bringt der Kellner den beiden zwei frische Gläser Bier, und gleich nach dem ersten Schluck verliert der Alte die Kontrolle. Wie man es bei Trinkern kennt, ist er von einer Sekunde auf die andere betrunken. Er gestikuliert unkontrolliert. Seine Stimme ist laut. Zwischen den Sätzen sackt er zusammen, um gleich darauf wie ein Springteufel wieder hochzuschrecken und seinen Saufkumpan anzuschreien. Der nimmt das mit Gleichmut hin.
Es ist fünf Uhr nachmittags.
Ich kannte die Belleville noch, als man das Viertel »Petite Afrique« nannte. Das war vor dreißig Jahren. Mein erster Besuch in Paris hatte mich auf den Butte de Belleville geführt. Liegt die Störung also nicht im Phänomen vor meinen Augen? Stehen diese beiden Chinesen nur für eine Reminiszenz an meine vergangene Jugend? Und in welchem Zusammenhang steht diese augenblickliche Erfahrung mit der Erfahrung von vor dreißig Jahren? Man kann darauf keine Antwort finden. Die Wirklichkeit kümmert sich nicht um Erzählbarkeit. Jeder Zusammenhang muss gefunden und erläutert werden, und in ungefähr neunhundertneunundneunzig von tausend Fällen gibt es zwischen den Erscheinungen keine Verbindung. Und wer sich immer nur stören lässt und niemals die Gründe für diese Störung findet, der wird unweigerlich den Halt verlieren und abstürzen. Wehe dem, der den Marktwagen nicht findet, der damals, vor dreißig Jahren, an der steilsten Stelle der Rue de Belleville stand, beladen mit frischer Minze und einem Haufen blutiger Schafsköpfe, bewacht von einem Ivoirien, wehe dem, der die Verbindung zu den beiden Chinesen nicht findet, sich verwirren lässt vom Grün und vom Rot, vom Surren der Fliegen, aber den Geruch nach Blut und Pfeffer nicht erkennt, der gleich aus der Erinnerung, vom Leiterwagen wie vom Nebentisch aus ihren Mündern, in die Nase steigt. Hier! Für einen Augenblick ist im chaotischen Universum ein Geviert gezogen, eine Freistatt, wo die Gravitation einer dreißigjährigen Sonne die Existenz dreier Menschen in einem ephemeren Gleichgewicht hält. Gleich wird es in sich zusammenstürzen, wieder Teil der allgemeinen und ewigen Kontingenz werden, und man tut besser, sich vor den fallenden Trümmern zurück ins Leben zu retten.
THOMAS BRUSSIG
Eine kurze Anleitung zur Unsterblichkeit
Wir machen Bücher. Das sind die Dinger, die, wenn du zum Beispiel durch Goethes Geburtshaus geführt wirst, im Bibliothekszimmer siehst, und bei deren Anblick du dann denkst: ›Ah, das könnte im Kopf des künftigen Dichterfürsten gewesen sein. Auch wenn er wohl kaum all diese Bücher gelesen haben dürfte, so wird er zumindest in manchen von ihnen geblättert haben.‹ Doch wer liest heute noch in diesen Büchern? Selbst der Autor einer Doktorarbeit, die sich mit der Bibliothek in Goethes Geburtshaus befasst, wird kaum eines dieser Bücher zur Gänze gelesen haben.
Auch als ich in der Bibliothek des Dubliner Trinity College stand, die als eine der schönsten der Welt gilt, kam mir unwillkürlich der Gedanke, dass, seitdem ich lebe, wohl die Mehrheit der dort stehenden Bücher von keinem einzigen Menschen mehr gelesen wurde.
Das soll weder anklagend noch kulturpessimistisch klingen. Mir selbst fiel mal ein Gedichtband von etwa 1850 in die Hände, wo neben einer Unzahl mir völlig unbekannter Dichter auch Heinrich Heine mit einem Gedicht vertreten war, und dieses stach heraus: Neben allerlei schwülstig-schwurbeliger Natur- und Mythologiepoesie war das Heine-Gedicht (ich weiß nicht mehr, welches) von kristallener Klarheit. Diese Leseerfahrung lehrte mich eines: Unsere Klassiker sind nicht zufällig unsere Klassiker; sie waren zu ihrer Zeit etwas Besonderes (auch wenn das damals nicht unbedingt von allen gesehen wurde, denken wir nur an Georg Büchner oder Franz Kafka). Und neben dem wenigen, was überdauert, gibt es vieles, das zu Recht vergessen wurde und in Frankfurt, Dublin oder sonstwo nur noch einstaubt.
Damit provoziere ich natürlich die Frage, ob ich mich auch für einen Autor halte, der eines Tages vergessen sein wird, weil er Bücher schreibt, die es nicht anders verdienen. Und wenn ja, wozu die Mühe? Warum Bücher schreiben, die ohnehin vergessen werden?
Als ich im Jahr 1991 mein literarisches Debüt hatte, den Entwicklungs- und Adoleszenzroman Wasserfarben, sagte ich in einem Radiointerview kurz vor der Veröffentlichung, dass man diesen Roman auch in zwanzig Jahren noch lesen kann – und als ich das aussprach, wurde mir schwindelig. Zwanzig Jahre sind eine sehr lange Zeit, und wenn ich als damals Sechsundzwanzigjähriger derartige Prognosen abgab – war ich da nicht ein Hochstapler? Heute lässt sich sagen, dass mein Buch zwar schon damals kaum gelesen wurde, aber meine Schwindel auslösende Vermutung bewahrheitete sich dennoch; in den vergangenen Jahren gab es immer mal Nachauflagen der Wasserfarben. Und dass die »zwanzig Jahre« eine gängige Maßeinheit für literarische Dauerhaftigkeit sind, wurde mir 2007 in einem Interview bewusst, anlässlich des Todes von Ulrich Plenzdorf, ebenfalls fürs Radio und obendrein live. Ob denn seine Bücher auch in zwanzig Jahren gelesen werden, wurde ich gefragt, und aus der Frage ließ sich die Hoffnung heraushören, dass ich den Büchern des kürzlich Verstorbenen nicht nur ein zwanzig-, sondern gleich hundertjähriges Nachleben prophezeien würde. Doch ich antwortete: »Wenn Sie mich so fragen, sage ich Nein. Vor zwanzig Jahren ist Heinrich Böll gestorben, als Nobelpreisträger. Werden seine Bücher heute noch gelesen? Aber Ulrich Plenzdorf hatte eine riesige Leserschaft, eine wahre Fangemeinde, zu seinen Lebzeiten. Ist das etwa nichts? Die wenigsten Schriftsteller können das von sich behaupten, und wer dieses Glück hatte, den müssen wir nicht als gescheitert betrachten, nur weil seinem Werk Dauerhaftigkeit abgeht.«
Und das ist meine Überzeugung: Wenn ein Buch heute und in zwanzig Jahren wirkt, dann ist viel erreicht, sehr viel. Aber auf Unsterblichkeit zu setzen? Das erinnert unwillkürlich an jene Menschen, die Parzellen auf Mond und Mars kaufen, für echtes Geld.
Wenige Wochen vor der Jahrtausendwende rief die New York Times (oder war’s ein anderer New Yorker medialer Flugzeugträger?) die weltweit wichtigsten Schriftsteller des 21. Jahrhunderts aus. Eine Deutsche war auch dabei. Weder hatte ich damals je von ihr gehört, noch hörte ich später von ihr (zumindest haben wir keine großartig bekannte Autorin, von der wir alle wissen, dass sie bereits 1999 zu den »wichtigsten Schriftstellern des 21. Jahrhunderts« gezählt wurde). Wer auch immer die Auswahl traf, eine Ausrede der Art, »dass sie nicht groß bekannt ist, widerlegt nicht den Umstand, dass sie wichtig ist«, lasse ich nicht gelten.
In den USA wird immer mal das Stück gezeigt, bei dessen Aufführung Abraham Lincoln erschossen wurde. Es war kein Shakespeare, und neunzig Prozent der heutigen Zuschauer werden wohl denken: Den Theaterbesuch hätte Lincoln sich schenken können. Wegen so was haben wir unseren besten Präsidenten verloren. Das ist einfach nicht fair. Das Stück, dessen Autor und Titel ich im Moment zu faul bin zu googeln, überdauert nicht wegen seines Inhalts, sondern aus Gründen, die nichts mit dem Stück zu tun haben.
»Bücher sind so wichtig für den Einzelnen,