Schatzsuche im Walenseeschloss. Michael Weikerstorfer

Schatzsuche im Walenseeschloss - Michael Weikerstorfer


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ob du’s glaubst oder nicht: Gerade als er reingehen wollte, fällt ihn eine riesige Wildsau an! Ja, eine richtig große!“

      Günter streckte seine Arme aus, um die Größe des Wildschweins darzustellen. Doch Paul war nicht wirklich beeindruckt. Konnte er tatsächlich alles glauben, was dieser Mann erzählte?

      „Und weißt du, was mein Großvater gemacht hat? Er hat reflexartig sein Messer gezückt, mein Großvater, der Held! Und abgestochen hat er sie. Mit einem einzigen Hieb! Natürlich, er hatte ja auch ein teures Messer. Handgefertigt, Schweizer Handwerkskunst, versteht sich ...“

      „Danke, dass Sie mir so viel erzählen“, unterbrach ihn Paul, denn der Kellner war soeben wieder erschienen.

      „Darf ich den Herren noch etwas zu trinken anbieten?“

      „Ein Bier, bitte“, verlangte Günter.

      „Nein, danke. Ich möchte zahlen“, sagte Paul. Für ihn war es an der Zeit, sich ins Bett zu legen und etwas auszuruhen. Schließlich standen morgen eine weite Wanderung und eine große Schlossexpedition auf dem Programm. Aber war es wirklich eine gute Idee gewesen, zum Walenseeschloss zu reisen? Denn die Geschichten, die der Einheimische erzählt hatte, schienen nicht sehr glaubhaft zu sein.

      Nachdem Paul ausgetrunken und bezahlt hatte, verabschiedete er sich von Günter und verließ den Raum. Während er die Treppe hinaufstieg, ließ er sich noch einmal die Erzählungen des bärtigen Mannes durch den Kopf gehen. Waren sie wirklich wahr?

      ***

      Der lärmende Reisewecker riss Simone sofort aus dem Bett. Müde rieb sie sich die Augen und schaltete den nervigen Alarm aus. Der Wecker war einer der wenigen Gegenstände, die sie aus ihrem Rucksack ausgepackt hatte. Denn sie würde das Hotelzimmer später bereits wieder verlassen, obwohl sie erst am Tag zuvor in Murg angekommen war. Ihr blieb nur heute für ihre Schatzsuche im Walenseeschloss.

      Nach einigen Minuten hatte sich Simone angezogen und ihre Sachen gepackt. In Gedanken war sie schon dabei, zu überlegen, wie ihre Expedition im Walenseeschloss ablaufen könnte. Sie würde unten am Fuß der Felseninsel beginnen und sich dann bis ganz nach oben durcharbeiten.

      Simone verließ den Lift und betrat die Hotellobby. Als Erstes ging sie auf den Kaffeeautomaten zu, den sie am Tag zuvor schon entdeckt hatte. Sie hatte zwar gerade keinen Hunger oder Durst, weil sie normalerweise nie frühstückte, aber ohne Kaffee würde ihre Schatzsuche bestimmt deutlich zäher verlaufen.

      Eigentlich musste Simone nur jenes geheimnisvolle Turmzimmer finden, von dem in dem dicken Buch die Rede gewesen war.

      Aber das konnte womöglich auch den ganzen Tag dauern, dachte sie, während sie die angenehm warme Flüssigkeit ihre Kehle hinabrinnen ließ. Der Kaffee entfaltete seine Wirkung und behagliche Wärme breitete sich langsam in ihr aus.

      Nachdem sie sich gestärkt hatte, ging die Archäologin zur Rezeption. „Guten Morgen“, grüßte sie höflich. „Ich möchte heute einen Ausflug unternehmen, der voraussichtlich den ganzen Tag dauert. Kann ich auschecken, wenn ich heute Abend zurückkomme?“

      „Selbstverständlich“, antwortete die Frau an der Rezeption freundlich. „Wohin geht Ihre Reise?“

      „Ich möchte das Schloss im Walensee erkunden.“

      „Dieses Schloss? Darin gibt es nicht viel zu entdecken. Es steht schon seit einer Ewigkeit leer und ist völlig mit Unkraut überwuchert. Sie wissen doch hoffentlich, was auf Sie zukommt, oder? Das Bauwerk könnte jederzeit einstürzen.“

      „Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich bin Archäologin und habe schon in viel älteren und baufälligeren Gebäuden gearbeitet.“

      „Na gut, wie Sie meinen. Viel Glück!“, wünschte die Hotelangestellte.

      „Danke sehr!“ Mit diesen Worten verließ Simone das Hotel und machte sich auf den Weg zum Bootssteg am Walensee, der sich nicht weit von ihrer Unterkunft entfernt befand.

      „Guten Tag! Ich möchte gerne ein Motorboot für einen Tag mieten“, trug Simone dem Bootsvermieter, einem kleinen, glatzköpfigen Mann, ihr Anliegen vor.

      „Sehr gerne. Das kostet 200 Schweizer Franken.“

      Nachdem Simone bezahlt hatte, betrat sie entschlossen das Wasserfahrzeug.

      „Wo soll’s denn hingehen?“, fragte der Bootsvermieter, während Simone ihre Ausrüstung verstaute.

      „Zum Walenseeschloss.“

      „Tatsächlich?“, erwiderte der Mann verwundert und blickte in Richtung des Schlosses, welches in weiter Ferne zu erkennen war. „Sie wissen doch, dass diese Burg schon seit über hundert Jahren leer steht, oder?“

      „Ja, das weiß ich“, antwortete Simone unbeirrt. „Und genau deshalb will ich dorthin. Helfen Sie mir bitte mit dem Rucksack?“

      Der Mann kratzte sich nervös an seinem Glatzkopf. Er schien nicht sehr erfreut über Simones Vorhaben zu sein, als er den Rucksack packte und ins Boot hievte. „Na gut. Aber eines sollten Sie noch wissen, wenn Sie an dieser Insel anlegen wollen. Es gibt ein altes Bootshaus, das zur Burg gehört, aber es ist sehr, sehr lange nicht mehr verwendet worden. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber der Wasserspiegel dieses Sees wurde im 19. Jahrhundert um fast sechs Meter gesenkt. Deswegen hängt dieses Bootshaus jetzt mitten in der Luft. Das ist der Grund, weshalb sich keine neugierigen Touristen in die Nähe dieses Schlosses begeben. Es ist nicht ganz einfach, an dieser felsigen, verlassenen Insel anzulegen.“

      „Danke für Ihre Hilfe“, sagte Simone zufrieden, während sie ablegte.

      „Viel Glück, und geben Sie Acht!“, hörte sie den Mann noch rufen, dann übertönte der Lärm des Motors seine Worte.

      Als Simone allmählich in die Nähe der Felsinsel kam, konnte sie langsam einige Details des Bauwerkes erkennen, das darauf erbaut war. Viele der Dächer und Türme waren eingestürzt, verbogene Holzbalken und brüchige Steine ragten müde aus den uralten Mauern der Festung. Die gesamte Südhälfte der Burg war mit zahllosen Kletterpflanzen, Dornranken und sogar von Bäumen überwuchert, was ihr ein verlassenes, doch gleichzeitig eindrucksvolles Aussehen verlieh. Je näher Simone mit ihrem kleinen Boot dem riesigen Walenseeschloss kam, umso größer und außergewöhnlicher wirkte es. Bei dem Gedanken, dass sich dort drin vielleicht irgendwo ein Schatz befand, wurde ihr bewusst, dass sie einen langen Tag vor sich hatte.

      ***

      „Hey, Paul! Aufstehen! Es geht los! Heute gehen wir zur Burg!“

      Müde hob Paul seinen schmerzenden Schädel und blinzelte ins Tageslicht, das durch das Fenster ins Zimmer drang. „Wie spät ist es?“, nuschelte er, während er sich schlaftrunken die Augen rieb. Er konnte erkennen, dass Fritz vor ihm auf der Bettkante saß und ihn erwartungsvoll angrinste.

      „Es ist genau acht Uhr, eine Minute und 32 Sekunden. Komm schon, steh auf, du Faulpelz! Ich will endlich losmarschieren“, sagte Fritz aufgeregt.

      „Acht Uhr morgens? Bist du des Wahnsinns?“, beschwerte sich Paul. „Dann habe ich ja nur vier Stunden geschlafen.“

      „Ach, ist doch halb so wild. Komm, wir gehen jetzt runter zum Frühstücken und dann geht die Wanderung los. Ich kann es kaum erwarten.“ Mit diesen Worten sprang Fritz vom Bett auf und ging auf die Garderobe zu, wo sein Rucksack stand.

      Während sich Paul schwerfällig von der Bettdecke befreite, plapperte sein Cousin munter weiter: „Also, ich bin längst mit dem Einpacken fertig. Darf ich schon hinuntergehen und frühstücken? Du brauchst sicher noch ein paar Minuten, bis du fertig bist, oder?“

      „Ja, geh schon mal vor“, gähnte Paul. „Ich komme dann in ... äh ... irgendwann. Und stell währenddessen bloß nichts an, hast du mich verstanden?“

      „Anstellen? Ich?“ Fritz zog die Augenbrauen überrascht hoch. „Blödsinn. Ich pass schon auf mich auf.“ Damit schulterte er seinen Rucksack und zog die Zimmertür hinter sich zu.


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