STECKSCHUSS. Ernst Rabener

STECKSCHUSS - Ernst Rabener


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Flocki, nicht schon dabei ist, den Tatort unsicher zu machen. Der hätt’ mir heut’ Nacht grad noch gefehlt!«

      »Deinen Bericht: Haste den schon nach Rosenheim geschickt?«

      Sie kippte den zweiten Espresso, sprang auf, weil Paul den Kopf schüttelte, ging ins Arbeitszimmer, setzte sich wortlos an den Computer und schlug die Bericht-Datei auf.

      »Den schickste mal lieber noch nicht!«, empfahl sie kopfschüttelnd. »Ich schau’ ihn dir im Büro nochmal durch.«

      Paul fiel nebenbei ein, dass es alles andere als nachlässig, vielmehr höchst weitsichtig von ihm gewesen war, Sissilissis zweites Smartphone nicht mitzunehmen: Die hatten in der WG keinen Festnetzanschluss, und mit einem Anruf auf Sissis Handy konnte er die beiden Mädchen samt Fritz mühelos einbestellen, die Nummer fand sich ja auf den beschlagnahmten Smartphones.

      Zu Lenas letztem Satz nickte er. Dann wollte er wissen, ob sie eine Ahnung habe, was ternaeres bedeute, das finde sich in der SMS von diesem Jackie.

      Erstmals heut’ Morgen lachte die Lena, wenn auch kurz und matt. Und während Paul sein Ei aufschlug und schlabberte und dazu ein leeres Brot nagte, versuchte ihm Lena den Unterschied von binärem und ternärem Computercode zu erklären, wusste aber auch viel zu wenig, im Grunde nur, dass die Russen Ende der Fünfzigerjahre mal mit einem einschlägigen Computer gerechnet hatten.

      Nach Lenas Erläuterungen hatte Paul zwar Ei und Brot verspeist, konnte aber keinen Erkenntniszugewinn verbuchen, da er auch das Wenige nicht verstanden hatte.

      »Is wohl Mathematiker, der Jackie«, schlussfolgerte Lena brillant. »Haste erfahren, was der Gusti studiert?«

      »Pharmazie.«

      Paul verräumte die Wurst, die unangetastet geblieben war. Das Geschirr ließ er stehen.

      Dann machten sie sich auf den Weg.

      VII

      Kurz vor acht waren sie auf der Dienststelle.

      Lena zog sich sofort in Pauls Büro zurück und verbesserte am Bericht herum, womit sie lange gut beschäftigt war.

      Als Paul seinen Ausdruck auf Karls Schreibtisch legte, fiel ihm der Ottl-Zettel ins Auge. Entsprechend der Anordnung darauf schaltete er den Computer ein, klickte die Datei an und las:

       Bericht der Streife vom 1. Juni 2016 über einen nächtlichen Vorfall in der Böhmerwaldstraße Hochwiel. Streifenpolizisten Simbach Ottl und Wagner Luggi wurden um 22.42 angerufen wg. angeblicher Schusswechsel in der Straße oben Nummer 12. Bei Ankunft war Ehepaar Friedl und Alfons Schidmüller noch in Wohnung. Ehep. hatte Schuss gemeldet und gewartet und dann aufs Klingeln hin heruntergekommen. Befragung vom Ehep. ergab nichts, außer dass Ep. Schuss gehört will haben. Beide Teile von Ep. wirkten etwas verstört und älter und hören auch nicht mehr gut, vertreiben aber eine Stadtzeitung. Ein Bestechungsversuch mit dieser wurde unterbunden (Ottl und Luggi). Nachbarn Wagenknecht (von Nummer 14) waren auf Ep. nicht gut zu sprechen und leugnen Schusswechsel oder Schuss, es war ein Moped, sagen beide. Ep. Schiedsmüller wurde von Wagenknecht schwer beschimpft, weil sie dauernd in der Nachbarschaft stark stören und so gut wie nichts mehr hören. Auch weitere Nachbarn stoßen dazu. Es war ein Moped bzw. eine Fehlzündung bzw. zwei, sagen auch sie. Die Zeitschrift der Schidsmillers wird als Scheißblatt bezeichnet, daher rühren wohl die Quärehlen im Viertel, was sonst sehr friedlich ist. Deswegen auch kein Streit davor und danach nach dem Schuss bzw. Fehlzündung auf der Straße. Einsatz der Streife war überflüssig, da nichts passiert war außer Mopedfehlzündung. Ep. Schietzmüller eventl. zu belangen wg. falscher Alarm.

      

       gez. Otto Simbach / Ludwig Wagner

      

      Das kommt selten vor, dachte Paul, dass man schon mit Dienstbeginn ein paar fröhliche Minuten erlebt, indem man ’nen Kollegenbericht zu lesen bekommt!

      Er ging auf den Flur hinaus und machte sich eben an der Kaffeemaschine zu schaffen, als Karl mit Sohn Gusti daherkam. Der setzte sich auf Papas wortlosen Wink hin brav an den kleinen runden Tisch zwischen den beiden Bürotüren.

      Paul versuchte seine Verärgerung gar nicht erst zu verbergen, packte Karl grob am Arm und schob ihn in dessen Büro.

      Offenbar hatte auch der Herr Kollege einen schweren Kopf, jedenfalls ließ er Pauls ausgedehnten Schimpf darüber, dass er nachts nicht erreichbar war, widerspruchslos über sich ergehen. Lena drehte sich kopfschüttelnd immer mal wieder Richtung Nachbarbüro um, weil sie durch die geöffnete Verbindungstür Wort für Wort mitbekam.

      Karl, lädiert, verkatert und schuldbewusst, verlieh zwischendurch drei, vier Mal seinem Bedauern Ausdruck, dass er gestern beim Schafkopf im Tattenbach ziemlich zechte und entsprechend breit war, weshalb er später sein Handy einzuschalten vergaß, was er sonst im Zug automatisch tue. Aber wegen seines astronomischen Gewinns – achtundzwanzig Euro dreißig! –, den er gleich in ein paar SteinhägerFreirunden investiert hab’, sei er einfach total euphorisch gewesen.

      »Dann können wir ja froh sein, dass du wenigstens heut’ Früh mal eingeschaltet und draufgeschaut hast: Mann!«, rief Paul, noch immer aufgebracht.

      Dass er seinen herkulischen Auftritt am Tatort wortgewaltig und farbenreich ausführte, nahm Karl gleichfalls klaglos hin.

      Das Telefon klingelte.

      Karl riss es hoch. Mit flattrigen Fingern nahm er den Hörer ab: Alfred war’s, er solle ihm den Paul geben.

      Der bekam einiges zu hören: Sie hätten doch vereinbart, dass der unvermeidliche Flocki so lange wie möglich aus der Sache rauszuhalten sei! »Und dann steht das Zeitungszwergerl vor zwanzig Minuten mitten im abgesperrten Bereich unter der Haustür und macht jede Menge Fotos!«

      Tatsächlich besaß der Lokalredakteur des Pfaffenwinkler Boten die unselige Eigenschaft, stets dort aufzukreuzen, wo er nichts zu suchen hatte und am meisten im Weg war. Seine Artikel hinwieder hatten ihn längst zur stadtbekannten Lachnummer werden lassen.

      Paul, der sich nichts vorzuwerfen hatte, wurde seinerseits laut und fragte, ob er, der Alfred, die drei jungen Leute, wie’s ermittlungstaktisch unerlässlich sei, einbehalten habe.

      Jetzt wurde Alfred kleinlaut und murmelte, sie hätten die doch nicht aufhalten können, wie denn? Die Mädels seien um sieben zu ihren Eltern nach Hause gegangen, sagten sie zumindest, und den Fritz hätten eine halbe Stunde später die Mami und der Papi abgeholt oder besser: rausgetragen, und das hätten sie von der Spurensicherung erst bemerkt, als die Eltern die Halbleiche schon ins Auto verfrachteten, »die Affen scheren sich doch heutzutag’ um Absperrband und Siegel keinen Dreck mehr!«

      »Also!« Paul wurde heftig. »Dann ist ja wohl klar, dass die zwei Lesbenmädls zunächst die Eltern vom besoffenen Fritz benachrichtigt haben. Und die Redaktion vom Boten wahrscheinlich gleich mit. Oder es war sonst jemand, der sich für den Tipp ein paar Euro ausgerechnet hat. Sakra!, ihr pennt vor euch hin, merkt nicht, was um euch rum vorgeht, und dann schiebt ihr andern den Dreck in die Schuh’! Geh leckt’s mich doch!«

      Alfred murmelte noch, dass sie Georgs Computer mitnehmen würden, und schaltete grußlos aus.

      Kaum hatte Paul aufgelegt, verspürte er einen ersten Schub bleischwerer Müdigkeit.

      Wieder läutete es.

      Er überließ Karl das Feld und ging nach nebenan zu Lena, die ihm durch die Glastür winkte: Sie schien fertig zu sein.

      Am andern Ende der Leitung war Frau Binswanger, die Sekretärin. Sie hatte den allen nicht unbekannten zittrig-devoten Ton in der Stimme, dem anzuhören war, dass was Höherrangiges den hiesigen Dienststellenleiter zu sprechen wünsche: Rosenheim! Der Herr Kriminalrat Beyschlag! Wegen der Sache heut’ Nacht!

      Schlagartig wich aus Karl alle Restmüdigkeit und Katerstimmung, und lebhaft bat er durchzustellen.

      Beim Stichwort Rosenheim hatte sich vor seinem Auge


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