STECKSCHUSS. Ernst Rabener

STECKSCHUSS - Ernst Rabener


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war freilich die Sache mit seinem Gusti: Wenn es stimmte, was die Lena ihm heut’ Morgen auf die Mailbox gesprochen hatte, dass der Bub irgendwie da mit drinhing – war er selbst dann nicht in höchstem Maß befangen und musste den Fall umgehend wieder abgeben? Kinder und nahe Angehörige von Ermittlern! Es überlief ihn heiß, als er daran dachte, was mit Buben und Mädels der Kommissare und Kommissarinnen so alles los war, regelmäßig! Probierten permanent Drogen aus! Waren Zeugen schwerer Verbrechen, weshalb regelmäßig von bösen Buben gnadenlose Jagd auf sie gemacht wurde! Kommissarin Lucas! Was passierte nicht deren Schwester alles! Hakan-Nesser-Krimi: Da wird der Sohn vom Kommissar mal wegen einer Drogensache einfach erschossen! Polizeiruf 110, Der Sohn der Kommissarin, das war noch länger her: Da musste die Karin Sass gegen den eigenen Sohn ermitteln, Raubüberfall! Und ihr Bub schwieg und sagte nichts, wie der Gusti meistens ja auch nichts sagt! Fürchterlich! Von den zahllosen Kripound Sonderkommissionsmitgliedern hatte so gut wie keiner halbwegs normale Kinder, die Alleinerziehenden schon gleich gar nicht! Höchstens zickige Gören und muffig-maulende, dauergrantelnde Knaben in voll ausgeprägter Pubertät, die in alles Mögliche hineingerieten! Ein solcher Knabe war im Dortmunder Tatort sogar mal zum Vatermörder geworden! Schwerelos hatte die Folge geheißen, genau! Da hatte der Bub Papas Fallschirm beschädigt, absichtlich, und der Papa war vom Himmel in den Tod gestürzt. Grauenhaft!

      Wenn nun sein Gusti tatsächlich ähnliche Dinge trieb, an die er als Vater nicht im Traum dachte? Von denen er keine Ahnung hatte? Bis vor fünf Jahren, als die Mama starb, hatte er über sie alles Wichtige erfahren, über Schule, Freundeskreis, Bekannte. Aber seither? Pharmazie studierte er, der Gusti – sagte er jedenfalls. Er hatte das nie überprüft, ganz entgegen seinem kriminalistischen Instinkt. Und wochen-, ja monatelang war er schon nicht mehr in Gustis Zimmer gewesen!

      »Meinen Bericht haste auf deinem Computer.« Paul kam durch die Tür geschlichen und holte den Kollegen Karl aus seinen trüben Gedanken. »Kannst ihn mal durchlesen, damit du wenigstens jetzt auf den Stand kommst, wo ich heut’ Nacht schon war!«

      Da aber stand er auf, der Karl! Er warf sich, tief durchschnaufend, gehörig in die Brust und teilte im Verkünderton seinen beiden Dienstlakaien mit, worüber und mit wem er gerade konferiert habe. Konferiert sagte er, als wär’ er im Lauf des Telefonats großartig zum Zug gekommen.

      »Aha!«, sagte die Lena kurz und trocken, als er mit der sehr individuell gefärbten Wiedergabe des Gesprächs fertig war.

      »Dann schaff ’ mal an!«

      Dazu kam er nicht mehr: Wieder klingelte es, wieder die Binswanger Loni: Eine Stegmaier Elisabeth, die hab’ was Wichtiges mitzuteilen, zum Mordfall, wolle aber unbedingt mit einer Polizistin reden.

      Karl und Paul zuckten mit der Schulter.

      Lena nahm kurzerhand den Hörer an sich und erfuhr, dass zwei Mädchen sie dringend sprechen wollten, wegen der Sache vergangene Nacht. Sie könnten ihre Aussage aber nur einer Frau gegenüber machen.

      Sissilissi!, dachte Lena. Das konnten nur die beiden Mädchen sein, die in Pauls Bericht nicht die unbedeutendste Rolle spielten!

      Auch Paul, der wieder schwer mit seiner Restmüdigkeit kämpfte, war klar, wen die Lena an der Strippe hatte. Er fragte sich nur, was Sissilissi noch wollten, wo er sie doch so gnadenlos tiefschürfend verhört hatte.

      »Ich les’ mal dein Geschreibsel, dann sehen wir, ob man’s so überhaupt nach Rosenheim schicken kann«, kündigte Karl in überlegenem Ton an. Paul und Lena kicherten auf, während er sich mit bedeutendem Schwung an den Bildschirm setzte.

      Pauls Rache folgte prompt: »Und ich red’ mal mit deinem Gusti, dann sehen wir, ob man dich mit deiner Befangenheit in diesem Team überhaupt weiter beschäftigen kann.«

      Mit Lena, die am Kaffeeautomaten tätig werden wollte, ging er auf den Flur und ließ Karl mit einem Schwall neuer Sorgen allein: In jedem zweiten Fernsehkrimi war es so gewesen, dass der Chefermittler irgendwann für befangen erklärt wurde und ihm der Rauswurf drohte, der oft genug von bitterbösen Vorgesetzten durchgesetzt wurde. Das aber – erleichtert atmete er auf – hinderte den Betroffenen nie, weiter zu ermitteln, und erst recht nicht, den Fall zu lösen: Wallander!, dachte er, Kommissar Beck! Sogar der Batic im Münchner Tatort: Alle waren die schon mal raus gewesen! Warum sollt’ es bei ihm nicht ebenso laufen können, wenn sich Rosenheim tatsächlich entscheiden musste, den Paul mit der Teamleitung zu betrauen?

      Als er sich beruhigt hatte, machte er sich an die kritische Durchsicht des Berichts, den die Lena in sprachliche Glanzform gebracht hatte, und verbesserte nur hie und da ein das in ein dass und umgekehrt, sodass am Ende – Lena hatte alle Fehler bereinigt gehabt – wieder die Hälfte falsch war. Dann schrieb er eine etwas peinliche Einleitung und schickte die Datei, »gez. Harlander Karl, PHM«, nach Rosenheim.

      Das Allererste, worauf es jetzt ankommt, dachte er, ist der unbeugsame Wille, Verantwortung zu übernehmen, und zwar gerade da, wo die Pflicht beginnt unangenehm zu werden!

      Und so machte er sich auf, um Georgs Eltern die Schreckensnachricht zu überbringen.

      Im Flur hob er eine Grußhand Richtung Paul, der seltsamerweise nicht neben Gusti, sondern einen Tisch weiter neben einem älteren Ehepaar saß, und machte sich davon.

      Er hätte, dachte er, als er im Auto saß, seinen beiden Untergebenen glasklare Anweisungen geben müssen, was in der Zeit seiner Abwesenheit zu erledigen war.

      Darauf musste er fortan mit großer Sorgfalt achten.

      Schiedmüllers!

      Als Paul, den immer heftiger nach einem Bett verlangte, auf den Flur getreten war, um Gusti in die Mangel zu nehmen, hatten ihm Friedl und Alfons den Weg verstellt, während Lena entwischte. Sie waren einfach hereingekommen und hatten gewartet, bis jemand auftauchte, dem sie ihr Anliegen aufdrängen konnten, und Paul hatte nun das Vergnügen mit den beiden: Sie im kurzen Jeansrock, darüber ’ne Jeansweste, darunter eine pinkfarbene Bluse, er im abgetragenen Sakko und in pinkfarbenen Turnschuhen, alles zusammen genommen ein höchst gewöhnungsbedürftiger Anblick.

      »Wissen S’, Herr Hauptmeister«, fing die Friedl grußlos an, »wir kommen lieber gleich selber, bevor Sie uns abholen lassen, weil wir wollen einfach wissen, was auf uns noch alles zukommt nach dem Schuss von heut’ Nacht, wo wir gemeldet haben, und …«

      Paul unterbrach mit markanter Handbewegung und leichter Erheiterung in der schläfrigen Miene. Er zog, was die beiden betraf, aus dem Ottl-Bericht die richtigen Schlüsse. Dennoch fragte er höflich, aber zu leise, in welcher Angelegenheit sie hier seien.

      Alfons tat sich sofort mit einem trotzigen »Jawoll!« hervor, Friedl meinte: »Ja natürlich geht uns die Angelegenheit hier was an, so eine komische Frage von Ihnen, Herr Hauptpolizist, und jetzt sollten S’…«

      Paul unterbrach sie, schon etwas gröber, nochmals mit eindeutiger Geste, weil er sich missverstanden sah, und wiederholte die Frage derart laut, dass auch noch der Gusti, der rund acht Meter entfernt saß, den verschlafenen Kopf ein klein wenig hob.

      Immerhin schien die Friedl jetzt deren Kern begriffen zu haben: »Ja wegen dem Schuss heut’ Nacht, wo Ihr Kollege heut’ Nacht gesagt hat, dass da noch was auf uns zukommen wird, eine Angelegenheit, hat er gesagt, und wir wollen jetzt wissen, ob wir uns einen Anwalt nehmen müssen…«

      »Jawoll!« Alfons fing sich einen scharf strafenden Blick ein, weil er die Gattin unterbrochen hatte, und gleich noch einen zweiten, weil er sie falsch verstanden und in seinem Kopf einen eigenen Zusammenhang zwischen zukommen, wissen wollen und Anwalt hergestellt hatte: »Jawoll! Wir wollen wissen, welche Anwaltskosten auf uns zukommen! Wir haben vorsichtshalber schon einen angerufen, heut’ Früh, und der…«

      Pauls Verwirrung über das undurchschaubare Gerede hatte sich zum Ärger ausgewachsen, und er schrie: »Erzählen S’ mir halt einfach, was heut’ Nacht los war und was Sie hier wollen! Dann kann ich Ihnen vielleicht helfen!«

      Womit er eine reichlich kuriose Erzählung in Gang setzte, die, gleich, ob die Friedl dem Alfons oder der Alfons der Friedl das Wort abschnitt,


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