Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Vom Geist Europas - Gerd-Klaus Kaltenbrunner


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ist bei Platon etwas ganz anderes, recht eigentlich sogar das Gegenteil von dem, was man heute darunter gedankenlos versteht; Idee ist mehr als ein bloßer Gedanke, Begriff oder gar Einfall — und mit eben dieser Einsicht, die Platon immer wieder aufs neue erörtert, beginnt philosophische Kultur. Zweitens: Idealismus ist keine „Lehre”, sondern eine Lebenshaltung; keine Theorie, sondern eine Praxis, allerdings eine theoretisch erleuchtete Praxis oder, wie die Franzosen es nennen, manière de vivre. Der Materialismus ist in weit höherem Maße eine Theorie als der Idealismus; abgesehen davon, daß er sowohl historisch als auch systematisch immer der zweite, wenn nicht gar dritte in der Folge und im Range ist: Antwort, Polemik und Berichtigung des Idealismus; nicht Aktion, sondern Reaktion.

      Die Idee ist das Geschaute. Sie ist eigentlich das, was nicht nur wir Menschen eräugen, sondern, wenngleich bewußtlos, alle Geschöpfe in dem Grade, in dem sie wesen und sind. Das ist der tiefe, der abgründige Gedanke, den Platon mit dem Begriff der methexis („Teilhabe”) umschreibt. Alles Seiende verdankt sich einem Sehen, Gesichtetwerden oder kurz und knapp: einem Gesicht. Die Vision ist nur die höchste Steigerung jener seinsstiftenden Ekstase, in der alle Wesen sich an dem Anblick der Ideen ausrichten und von ihnen durchschaut, durchlichtet und mit Sein belehnt werden. Sie bilden sich aus, indem sie sich in die ihnen entsprechenden Ideen ein- und hineinbilden, imaginieren in die „Imago” des Urbildes.

      Das sei eine „spekulative” Marotte, mag man sagen: „Begriffsdichtung”, „nichts als Idee”, vielleicht sogar im klinischpsychiatrischen Sinne „fixe Idee”. Das über die Spekulation verhängte Verdikt schüchtert viele ein. Es hatte eine gewisse Berechtigung als Korrektiv gegen einen zuchtlosen Mystizismus. Aber Philosophie ist Spekulation, weil Platon die Philosophie ist. Es ist aberwitzig, von der Philosophie zu verlangen, sich angesichts der Erfolge einer methodologisch beschränkten Naturwissenschaft auf bloße Fragen der Epistemologie, Logik und Semantik zu konzentrieren (so bedeutsam diese Probleme unleugbar sind, sofern man sie in einem größeren Sinnzusammengang behandelt). Arbeitsteilung, Methodologie, Aufmerksamkeit auf reproduzierbare und zwingend einsichtige Details in Ehren — aber dies kann doch nicht das letzte Wort sein: Sicherheit um jeden Preis, Wahrheit reduziert auf das experimentell Erwiesene oder mathematisch Gültige. Auf die Dauer läßt sich nicht der mit dem Leben gleichzusetzende Impuls unterdrücken, der wissen will, was es alles zu verstehen gibt, und nicht bloß, wie es nach den Normen der Schule zu verstehen sei. Wer diese meine Auffassung teilt, befindet sich in guter und überaus bunter Gesellschaft, in der man Whitehead, Bergson, Klages, Solowjow, Heidegger, Bloch, Spann und Hans Jonas begegnen kann. Sie alle haben das Abenteuer der Spekulation gewagt.

      Man lasse sich doch nicht durch den zufälligerweise in die Sprache der Börsianer und Steuerfahnder gelangten Ausdruck beirren. Spekulieren kommt vom lateinischen speculari, „spähen”, auslugen, ins Auge fassen. Aus einem gewissen Abstand, etwa von einer Warte (specula), das, was sich zeigt, die species, nachdenklich zu betrachten, ist die spekulative Haltung des Philosophen vom Schlage Platons. Das lateinische Wort species (Anblick, Gestalt, Erscheinung) entspricht ganz dem griechischen eidos oder idea. Der spekulierende Mensch gleicht dem Türmer Lynkeus, der das platonische Hochgebet ausspricht:

      Zum Sehen geboren,

       Zum Schauen bestellt …

      Der spekulierende Philosoph ist in die Tiefe spähender Kundschafter des Weltgeheimnisses. Sicherheit gibt es da keine, eher packt ihn der Schwindel. Statt verbürgte Gewißheit in kleine Rechenpfennige auszumünzen, setzt er sich einem ätherischen Taumel aus. Dieser Taumel ist das Staunen, das thaumazein des Griechen — die Wurzel ursprünglicher Spekulation. Platon nennt es ausdrücklich „das Pathos des Philosophen”. Und abermals, wie bei den Wörtern Idee und Spekulation, gewahren wir eine schaubezügliche oder ophtalmische Grundbedeutung. Sowohl das griechische thaumazein wie das deutsche staunen bedeuten bereits in vorphilosophischem Sinne soviel wie verwundert anschauen, unverwandten Blickes starren, vor dem Unbekannten, Fremden oder Wunderbaren anschauend standhalten …

      Diese Haltung des Staunens verbindet das nicht mehr ganz wilde, aber noch nicht verkorkste Kind mit dem Philosophen Platon, in dessen Dialogen sich so viele Gedanken über Kindheit und Jugend, Erziehung und Spiel finden. Der zum Sehen geborene, zum Schauen bestellte Mensch findet im Erstaunen zur Philosophie und durch sie zur Spekulation.

      Anfang und Bedingung der Philosophie ist das Staunen. Das hat Platon in seinem großen Spätwerk, dem Dialog „Theaitetos”, für alle Zeiten festgehalten. Hier sagt der durch die scharfsinnigen Darlegungen des Sokrates ratlos verwirrte Jüngling, nach dem der Dialog benannt ist: „Bei den Göttern, mein Sokrates, ich komme aus dem Staunen nicht heraus über die Bedeutung dieser Dinge, und manchmal wird mir’s beim Blick auf sie geradezu schwindlig.” Darauf versetzt der Meister dem vom Gefühl gelinden Taumels ergriffenen Theaitetos: „Das ist ganz und gar das Pathos — die Gemütsverfassung — eines wahrhaften Philosophen: das Staunen. Es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen.”

      Das Staunen ist aber nicht nur der kindhafte Anfang der Philosophie, sondern auch ihre reife Frucht in höchstem, beinah schon leisest verklingendem Alter. Der liebebewegte Philosoph geht den Weg vom Sinnlichen zum Seelischen, vom Seelischen zum Geistigen, und immer neue Schönheiten immer umfassenderer Art erschließen sich ihm, sagt Diotima im „Symposion”. Am Ende aber wird er, so fährt sie fort, „plötzlich ein staunenerregendes wesenhaft Schönes erblicken, auf das alle früheren Bemühungen hinzielten”: „Auf dieser Stufe ist, wenn irgendwo, das Leben für den Menschen lebenswert.”

      Es ist dies der Weg vom nichtwissenden Staunen zum die Idee mit großen weitgeöffneten Augen schauenden Staunen, der Weg von der verblüfften Verwunderung zur ergriffenen Bewunderung, von der Ratlosigkeit zur Kontemplation und Spekulation.

      Spekulation höchster Art kann nicht trügen. Sie vermag allerdings denjenigen, der sie pflegt, unter Umständen für das, was man gemeinhin das Leben nennt, untauglich zu machen, ähnlich wie Weitsichtige nahe liegende Dinge nicht oder nur undeutlich wahrnehmen. Ähnlich ergeht es ja auch dem Goetheschen Türmer Lynkeus. Streit und Verwirrung entstehen erst, wenn das, was staunend gesehen und visionär geschaut wurde, in Worte übersetzt werden soll: in meistens vieldeutige und durch langen Gebrauch belastete Worte aus oft ganz andern Lebensbereichen. Streit und Verwirrung entstehen vor allem dann, wenn Philosophie jenes tertium datur vergißt, das ihr Standort ist, sofern sie staunt und spekuliert: weder Wissenschaft noch Dogma, weder Laboratorium noch Kirche, weder Politbüro noch Werbeagentur, sondern eben das Aushalten im Erstaunen und die Bereitschaft, wie Heidegger, Platon fort-denkend hinzufügt, „dieses Erstaunen als Wohnsitz anzunehmen”.

      Wenn dies geschieht, dann verliert das Spekulieren jeden Beigeschmack von Überheblichkeit. Es ist nichts als das zutiefst demütige Verharren im Anblick der Welt-Tiefe, die tiefer ist, als der Alltagsverstand wähnt. Dieser will Sicherheit, Gewißheit, Richtigkeit, vor allem aber eine „demokratisch” mißverstandene Einfachheit. Er will begreifen und beweisen, wo man bestenfalls schauen und staunen kann, weil das in Erscheinung Tretende wesentlich unantastbar und unergründlich ist. Deshalb ist Philosophie von jeher eine Sache einsamer Einzelgänger oder kleiner verschworener Bünde, obwohl es vielleicht jedem Menschen in gewissen Augenblicken widerfährt, unbewußt und ungewollt zu philosophieren.

      Auch dies hat Platon bereits gesehen, wie sein Wort im Dialog „Sophistes” zeigt, wo vom Denken als dem „tonlosen Gespräche der Seele mit sich selbst” die Rede ist. Der Denker ist all-ein mit sich selbst. In der Zwiesprache der Seele kommt etwas zu Wort, das im Grunde unsagbar ist. Es sind die ersten und die letzten Dinge, auf die es ankommt. Logik und Dialektik, Geometrie und Semantik, Definitionen und Methoden, Zahlen und Figuren sind dazu nur Vorspiel, Rüstzeug und Übung. Sie sind nicht das Ziel. Das Ziel ist wie der Ursprung der hochzeitliche Beginn des Staunens. Von ihm gilt das merkwürdige Wort in den „Nomoi”: „Denn der Anfang ist auch ein Gott und rettet alles, wenn er von jedem die gebührende Ehre empfängt.” In ihm gründet fruchtbare Spekulation, die im Grunde Intuition ist.

      Was aber ist Intuition? Nun, es kann ja gar nicht anders sein, das aus dem Lateinischen stammende Wort bedeutet ursprünglich ganz einfach: anschauen, betrachten, im Auge haben, in gelegentlichem Zusammenhang auch: staunen.


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