Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner
der erste Arbeiter-Dichter und Ahnherr abendländischer Philosophie ist …
Hesiod rühme ich, den das Klagelied vom Verfall der Weltalter wehmütig anstimmenden Übersetzer der indischen Kali-Yuga- Lehre ins Griechische …
Hesiod rufe ich an, den erleuchteten Hirten der Lämmer und Eingebungen; den Sänger ursprünglichen Einsseins von Göttlichem, Welt und Menschheit; den das All als Kaskade von Umarmungen und Geburten gewahrenden Matriarchäologen, für den nichts von der Beseelung ausgenommen ist und alles seinen Beginn in sich trägt; ich ehre die Macht dieses Stifters, Bürgen und Ferments der Abenteuergeschichte europäischer Ideen; ich verneige mich vor dem Künder der Blütengestalt Aphrodite, des Spieles der Wogen und der Schwarzen Madonna, deren Name ist: Erde …
(1989)
Platon
Im Anfang war das Staunen Der Mann, der die Ideen schaute
Und es neigen die Weisen Oft am Ende zum Schönen sich.
Hölderlin
Hesiod ist der Mythos mit philosophischen Keimen. Platon ist die Philosophie, die auf ihren Gipfeln des Mythos nicht entraten kann, das Höchste in mythischen Bildern zur Sprache bringen muß: so vor allem im „Timaios”, im „Symposion”, in der „Politeia”, im „Phaidon”.
Platon ist die Philosophie, und die Philosophie ist Platon, wie bereits Emerson gesagt hat, der den Athener mit Swedenborg, Montaigne, Shakespeare, Napoleon und Goethe zu den „Repräsentanten der Menschheit” zählt.
Ähnlich hat Alfred North Whitehead, der britisch-amerikanische Metaphysiker, einmal geistreich knapp die gesamte europäische Philosophie als eine „Reihe von Fußnoten zu Platon” bezeichnet. Obgleich dieses Aperçu ein wenig übertreibt, so hält es zu Recht fest, daß Platon zu den fortzeugenden Gründergestalten des Abendlandes gehört, daß er in jedem anspruchsvollen Denken bewußt oder unbewußt gegenwärtig ist. So wie kein Europäer, mag er dem Christentum noch so entfremdet sein, die Bibel entbehren kann, sowenig kommt er um Platon herum, auch wenn er kein professioneller Philosoph ist.
Platon ist die Philosophie, obwohl er seine Gedanken nirgends in zusammenhängender, für sich abgeschlossener, durch-systematisierter Weise darlegt. Er verfaßte Dialoge, in denen fast immer Sokrates, sein geliebter Lehrer, als Hauptgestalt auftritt: Sokrates, der, wie Jesus, keine Zeile geschrieben, sondern alles dem gesprochenen Wort anvertraut hat … Sokrates, der Plebejer, als Sprachrohr des Aristokraten Platon, der sich mütterlicherseits von Solons Sippe, väterlicherseits von dem mythischen König Kodros und damit von dem Gott Poseidon ableitete … Sokrates, der niemals an der Verwaltung des Staats tätig Anteil nahm, als Meister des sich als Fürstenerzieher und politischer Reformator versuchenden, das Urbild eines „wahren Staates” entwerfenden Ordnungsdenkers, der zu dekretieren wagte, daß die Menschheit erst dann von ihren Leiden befreit sein würde, wenn die Herrscher Philosophen oder die Philosophen Herrscher geworden wären.
Sokrates war verheiratet und hatte drei Kinder. Platon blieb unvermählt und ohne leibliche Nachkommen. Aber wie viele Denker sind seine Söhne, Enkel und Erben bis auf den heutigen Tag! Ohne Platon kein Aristoteles und kein Plotin, kein Augustinus und kein Boëthius, kein Meister Eckhart und kein Nikolaus von Kues, kein Pico della Mirandola und kein Thomas Morus, kein Descartes und kein Malebranche, kein Leibniz und kein Kant, kein Geulincx und kein Solowjow, kein Schopenhauer und kein Husserl, kein Whitehead und kein Heisenberg. Was ist Hegel anders als ein dynamisierter und historisierter Platon? Die kirchlich gebundene Philosophie des Mittelalters, soweit nicht überwiegend aristotelische Scholastik, ein durch Dionysios Areopagita vermittelter, zum Teil aus dem Arabischen und Persischen zurückübersetzter Platonismus? Wieviel Platonismus steckt doch in Schiller, in der deutschen und englischen Romantik, desgleichen in Walter Pater, Charles L. Morgan, Hermann Broch und Othmar Spann, dem Wiederentdekker des Platonikers Adam Müller!
Keineswegs soll damit behauptet sein, daß alle hier nur beispielshalber genannten Denker in schulmäßigem Sinne „Platoniker” gewesen seien. Es gilt bloß, der unaufhebbaren Tatsache eingedenk zu sein, daß seit fast zweieinhalb Jahrtausenden durchweg im Dialog mit dem Dialogiker Platon philosophiert wird: anknüpfend, abwandelnd, wiederholend und auch polemisch.
Platon ist postum der frühen Kirche zum „Praeceptor theologiae” geworden; die vielberedete „Hellenisierung” des Christentums bedeutet im großen und ganzen dessen Platonisierung. Daran gibt es nichts zu deuteln, auch wenn neuerdings progressive Kirchenmänner dies für ein Verhängnis halten. Das Evangelium kommt aus dem aramäischen Raum, aber bereits die frühesten Apologeten und Kirchenväter — etwa ein Clemens von Alexandrien — haben es nicht am Leitfaden des Talmud ausgelegt, sondern gleichsam in die Sprache Platons übersetzt. Für sie war Platon sozusagen das griechische Gegenstück zum Alten Testament, eine den Heiden zuteil gewordene Vorbereitung auf Christus: Heilsgeschichte in Gestalt der Philosophie, ähnlich wie man seinen Meister Sokrates als Präfiguration, beinahe als Doppelgänger Jesu zu betrachten wagte. Noch im deutschen Mittelalter galt Platon als „der große Pfaff”, und dieser Titel war damals, wie sich von selbst versteht, anerkennend gemeint, gleichsam als nachgeholte Taufe: „Plato christianus.”
Desgleichen war dieser Zusammenhang und Parallelismus dem Humanismus einsichtig, einem Marsilio Ficino, Erasmus von Rotterdam, Pico della Mirandola, auch noch einem Goethe. Der Zuletztgenannte bezeichnete Platon als einen „seligen Geist”, dem es beliebe, immer nur einige Zeit auf der Erde zu weilen, nicht um sie kennenzulernen, sondern um ihr von oben das, „war ihr so not tut, freundlich mitzuteilen”: „Er bewegt sich nach der Höhe, mit Sehnsucht, seines Ursprungs wieder teilhaft zu werden. Alles, was er äußert, bezieht sich auf ein ewig Ganzes, Gutes, Wahres, Schönes, dessen Forderung er in jedem Busen aufzuregen strebt.”
So hat ein kongenialer Deutscher noch im vorigen Jahrhundert Platon gesehen, der Dichter, der in einer einzigen Zeile zumindest die Hälfte von dessen Philosophie unübertroffen lapidar ausgedrückt hat: „Mir bleibt genug! Es bleibt Idee und Liebe!”
Von demselben Goethe, der mit Platon und Leonardo da Vinci zu den universalsten Geistern aller Zeiten gehört, gibt es auch einen kleinen Aufsatz aus dem Jahre 1796: „Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung”, in dem er allerdings, völlig zu Recht, gegen eine einseitige theologische Indienststellung des Griechen polemisiert. Platon war und ist mehr als ein Küster. Aber die Kirche wäre nie eine geistige Macht geworden ohne Übernahme der platonischen Ideenlehre und Ethik. Ferdinand Christian Baur, der Meister der Tübinger theologischen Schule, veröffentlichte 1837 eine religionsphilosophische Untersuchung mit dem Titel „Das Christliche des Platonismus.” Eine ähnliche Schrift stammt von Baurs jüngerem Zeitgenossen, dem Geschichtsphilosophen und Altertumsforscher Ernst von Lasaulx, einem seit langem so gut wie vergessenen Vorläufer Spenglers und Toynbees, den Jacob Burckhardt eifrig gelesen und exzerpiert hat. Der unselige Verehrer und Basler Kollege Burckhardts Friedrich Nietzsche — bis zur Raserei Antiplatoniker und Antichrist, ohne jemals von seinen geistigen Antipoden loszukommen — nannte das Christentum dieserhalb abschätzig einen „Platonismus fürs Volk”.
Diese wenigen, aufs Geratewohl herausgeklaubten Beispiele beweisen zur Genüge: Durch mehr als ein Jahrtausend wurden zentrale Dogmen des Christentums mittelbar oder unmittelbar in platonischen Kategorien formuliert, anhand des so gut wie heiliggesprochenen Platon ausgelegt und erläutert. Das gilt für die Lehre von der Ewigkeit Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, die Schöpfung der Welt. Von Ewigkeit her ist der erst in der Zeit, mit der Zeit geschaffene Kosmos als „mundus intelligibilis” dem göttlichen Geist ideell innewohnend. Er hat wie alles Seiende ein unveränderliches Urbild. Die Schöpfung vollzog sich im Blick auf diese exemplarischen Urbilder: die überweltlichen Ideen. Gott ist Idealist, so wie es der Künstler ist. Die antlitzhafte Gesamtheit dieser Urbilder ist der Logos, die zweite göttliche Person, der Gottmensch Christus. Deshalb sagte der heilige Thomas von Aquin: „Wer die Ideen leugnet, der ist ein Häretiker; denn er leugnet den Sohn Gottes.”
Für Byzanz, das heißt: das bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Türken am 29. Mai 1453 bestehende Oströmische Reich, das, trotz