Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner
und Genetrix. Die Kore Kosmu, wie wir die hesiodeische Weltenjungfraumutter mit Fug und Recht heißen dürfen, gebiert unbegattet und ungepaart, rein parthenogenetisch die breitgebrünstete Gaia, die Erde, dann den Tartaros und Eros, von dem Hesiod sagt:
… er ist der schönste der ewigen Götter,
Lösend bezwingt er den Sinn bei allen Göttern und Menschen
Tief in der Brust und bändigt den wohlerzogenen Ratschluß.
Aus der ungeschiedenen matriarchalen All-Einheit der kosmischen Madonna, die wahrlich im Anfang ganz und gar mutterseelenallein war, entspringen und werden entbunden durch chaosvermittelte Geburt: Gaia, die Erde als Weltelement, unterschieden von der Scholle des Ackerbodens (Chthon), dann der unterirdisch dunkle Tartaros und zugleich der lichterfüllte, lebenversüßende, zum Leben verführende Eros, der die aufgebrochene Einheit durch vermittelte Fülle erneut bewirkt.
Halten wir einen Nu inne, um uns zu besinnen. Was Hesiod in diesen sieben Versen sagt, ist mehr als bloße Literatur. Ist mehr als erhabene Dichtung, wenngleich ineins höchste Poesie. Es ist divinatorische Philosophie, Kosmosophie und Ontosophie, noch von mythischen Urgewässern frischtriefende Vorwegnahme und Versiegelung des offenbaren Geheimnisses, zu dem sich spekulativer Tiefsinn erst in Jahrtausenden maulwurfsähnlich hindurcharbeiten mußte, ohne es bis heute völlig begriffen zu haben.
Wahrlich, schon Hesiod bezeugt auf seine Weise kraft ihm zuteil gewordener Offenbarung: „daß die ganze Schöpfung mitseufzt und in Wehen liegt bis heute” (Paulus an die Römer 8, 22), „daß die Dinge ihre Tränen haben” (Vergil: Aeneis I, 462), daß die „innerste und tiefste Geburt in der Mitte stehet und das Herz der Gottheit ist” (Böhme: De tribus principiis), „Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht; aus dem Dunkeln des Verstandlosen — aus Gefühl, Sehnsucht, der herrlichen Mutter der Erkenntnis — erwachsen erst die lichten Gedanken” (Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit). Sogar bei Hegel, dem Archäologen des Weltgeists, findet sich noch ein Widerhall der Hesiodschen Epiklese der Geburtlichkeit aller Wesen: „Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht — ein qualitativer Sprung — und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues einer vorhergehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet … Dies allmähliche Zerbröckeln … wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt”. (Phänomenologie des Geistes, Vorrede; vgl. Philosophie der Religion II, 2, II, 2 a)
Geburt ist der Ursprung aller Dinge. Auch das, was spätere Geschlechter als gemacht erachteten, ist geboren, urständet im Schoß der Mutter. Hesiod spricht von nichts anderem. Nicht einmal Bachofen vermochte mit solch erhabener Monomanie den ursprünglichen Kosmos als Matriarchat, die Entstehung des Alls aus gebärerisch-mutterwütigem Chaos als eine einzige Gynogenese zu deuten.
Wahrlich, zuerst entstand das Choas und später die Erde …
Nun übersetzen wir getrost mit frommer Verwegenheit, den Blick auf die allmütterliche „Kore Kosmu” gerichtet:
Wahrlich, zuerst entstand ein Wehensturm, durch den der Allmutter Schoß sich klaffend weitete und öffnete, und daraus wurden geboren die Erde, der dunkelabgründige Tartaros und Eros.
Der Primat des Weiblichen ist offenkundig: zuerst die heiligungenannte Allmutter, die mutterseelenallein durch sich selbst ist; dann ihre Geburtswehen; dann das fruchtbare Klaffen der Chaos-Geburt; hierauf die Parthenogenese der eingeborenen Tochter Gaia, der Erde. Es könnte sein, daß Gaia mit Tartaros und Eros, den beiden männlichen Gottheiten, eine Drillingsgeburt bildet. Aber dies würde nicht das geringste an ihrem Vorrang ändern. Hesiod nennt sie feierlich an erster Stelle. Sie ist das erstgeborne Kind der in chaotischen Wehen liegenden kosmischen Madonna.
Der in seinem zweiten Gedicht „Werke und Tage” anläßlich der durch Pandora — die griechische Eva — übermittelten Übel das weibliche Geschlecht wenig galant behandelnde Hesiod erweist sich in seiner „Theogonie” als ein wahrer Meister Frauenlob. Er verdient diesen Ehrennamen mit noch größerem Recht als der Minnesänger Heinrich von Meißen. Für Hesiod ist, wie vielleicht sonst nur noch bei dem sanfteren, leiseren, um nicht zu sagen diskreteren Laotse, das Weibliche eine kosmische Potenz, und noch dazu eine dem Männlichen offenkundig überlegene. Laotse spricht im „Tao te king” (Kapitel 6) bloß zarter und kürzer aus, was auch Hesiod singt:
Der Geist des Tals stirbt nicht,
das heißt das dunkle Weib.
Das Tor des dunklen Weibs,
das heißt die Wurzel von Himmel und Erde.
Deutsch von Richard Wilhelm
quellgründe/geist/un-/sterblich:
er/ist/urtümlich/weibliche,
des/urtümlich/weiblichen/pforte:
er/ist/himmel/erde/wurzel.
Deutsch von Jan Ulenbrook
Der unsterbliche Tal-Geist der tiefliegenden Quellgründe ist der Genius des tiefen Ewigweiblichen; seine „Pforte” — manche Übersetzungen nennen sie ausdrücklich „Mutterschoß” (Ernst Schwarz) — ist der Ursprung von Himmel und Erde. Dies sagt Laotse, der übrigens einige Jahrhunderte nach Hesiod gelebt hat.
Was der Chinese beinahe flüstert, das prasselt bei dem Griechen in hexametrisch hallender Sturzflut von Zeugungen und Geburten hernieder. Kaum sind Erde, Unterwelt und Eros geboren, da gibt es kein Halten mehr. Chaos entläßt ein weiteres düsteres Geschwisterpaar aus ihrem Schoß: die Nacht (Nyx) und den ebenfalls unterweltbezüglichen Abenddämmer (Erebos, vgl. Europa = „Abendland”). Der inzestuösen Verbindung von Erebos und Nyx entspringen endlich zwei hellere Geschwister: der leuchtende Tag (Hemeros) und die Himmelsluft (Aither, Äther).
Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht. In dem Dunkel des mütterlichen Schoßes bildet sich heran das sonnenhafte Kind. Dem Dämmer des Unbewußten entspringen die Lichtblitze des Geistes, die Effulgurationen der vernehmenden Vernunft. Nächtlich kehrt der wache Tagmensch zurück in das Asyl des Schlafes, in die Höhle seiner Bewußtlosigkeit, um sich in deren Dunkel zu erfrischen. Nacht und Finsternis sind eher gewesen denn der Tag. Wie anders schmecken bereits die beiden Wörter, wenn wir sie bedächtig aussprechen, sie gleichsam auf unserer Zunge zergehen lassen, ähnlich wie man in alemannischen Landen sagt, daß man den Wein nicht trinken, sondern züpfeln müsse: der Alltag hier, die Allnacht dort … Von allen Frauen, die ihm lieb, sei die Nacht die schönste, sagte vor etlichen Jahren ein seltsamer Dichter. Das klingt wie ein Plagiat, dem Novalis entnommen, und steht doch, wenngleich mit ein bißchen andern Worten, schon in Hesiods „Theogonie” …
Gaia, chaosentsprungene, erstgeborene Tochter der Allmutter, entläßt alsbald ihrem Schoß, wieder parthenogenetisch, wie Hesiod ausdrücklich festhält: Uranos (den Himmel), die Berge und Pontos (das Meer).
Gaia, die Erde, erzeugte zuerst den sternigen Himmel
Gleich sich selber, damit er sie dann völlig umhülle,
Unverrückbar für immer als Sitz der ewigen Götter,
Zeugte auch hohe Gebirge, der Göttinnen holde Behausung,
Nymphen, die da die Schluchten und Klüfte der Berge bewohnen;
Auch das verödete Meer, die brausende Brandung gebar sie
Ohne beglückende Liebe, den Pontos …
Gaia zeugt und gebiert. Der Sternenhimmel Uranos ist ihr Sohn, dann aber auch ihr Gemahl, von dem sie sich völlig umhüllen läßt. Der Himmel, Uranos, ist eine männliche Gottheit, aber durchaus nicht der Schöpfer der Welt. Seine vorzüglichste Aufgabe ist es, Gaia, die eigene Mutter Erde, zu umarmen und zu befruchten. Anstelle der Kreation tritt bei