Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Vom Geist Europas - Gerd-Klaus Kaltenbrunner


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Folgen. Begehren, Umarmung und Orgasmen sind in hesiodeischer Schau kultische Vollzüge; ob ehelich oder außerehelich, ob exogam oder endogam oder sogar inzestuös, dies ist, zumindest in kosmischer Urzeit, alles eins.

      Von dem, was damals — ab origine, in illo tempore, en arché — sich gewaltig begab, fällt noch Lichtglanz und Weihesinn auf die menschliche Geschlechtsliebe, auf die beständigste wie auf die flüchtigste Verbindung von Mann und Frau. Jede Liebesvereinigung auf Erden erscheint sub specie aeternitatis als Nachfolge des hieros gamos der Götter, der Myriaden hochzeitlichen Liebesfeste und Liebesbünde der Unsterblichen, denen sich das All verdankt.

      Wie ein orgiastischer Katarakt durchzieht eine unaufhörliche Kette von Liebesgeschichten die gesamte Schöpfung. Eros, einer der allerfrühesten und der schönste der Götter, der selbst ewig unvermählt bleibt, ist immer im Spiel, wo Liebe auf Liebe trifft.

      Hölderlin beginnt sein Gedicht „Lebenslauf”:

       Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt

      All uns nieder

      „Amor ist es, der uns zusammendrückt”, notiert sich Novalis, und er wiederholt damit, wie Hölderlin, Vergils Ruf (Bucolica 10, 69):

       Omnia vincit Amor: et nos cedamus Amori

      Alles besiegt Eros: wir auch weichen Eros.

      Hölderlin, Novalis und Vergil haben Hesiod gelesen; Vergil trachtete sogar danach, mit seiner „Aeneis” als römischer Homer und mit dem Lehrgedicht über den Landbau „Georgica” sich als lateinischer Hesiod auszuweisen, so wie mit seinen Hirtengedichten als italischer Theokrit.

      Der Poimèn-Poietes, der Hirt-Dichter Hesiod ist auch hier der Erste, der Archäus im paracelsischen Sinn des Wortes: samenreich durch die Jahrtausende fortzeugender, in immer neuen Signaturen und Konfigurationen gestaltenüberquellender Lebensdrang, élan vital abendländischer Dichtung, die das Seiende zur Sprache bringt und im Gewande der Schönheit zu denken gibt. Verglichen mit Hesiod ist Homer, obwohl zeitlich der frühere, ein Spätling. Hesiod kennt und nennt viele Gottheiten, die Homer bloß am Rande erwähnt oder völlig verschweigt. Gemessen an Hesiods göttlichen Hochzeiten, sind die Abenteuer der homerischen Olympier leichtfertige Affären, fast schon operettenhafte Travestien à la Jacques Offenbach. Ich sage dies nicht, um Homer herabzusetzen, dessen „Odyssee” zu meinen liebsten Büchern gehört und die durch nie wieder erreichte Schönheiten entzückt, die man bei Hesiod vergeblich suchen würde. Homer wird hier nur genannt, um die unvergleichliche Besonderheit und Eigenart des boiotischen Theogonikers herauszuheben. Hesiods Werk gibt uns Kunde von Hierophanien, die, wäre es verlorengegangen, die ausschweifendste Einbildungskraft eines Phantasiasten nie und nimmer hätte erfinden können. Eben deshalb darf Hesiod gerade in götterlos dürftiger Zeit erwarten, „daß gepfleget werde der feste Buchstab, und Bestehendes gut gedeutet”.

      Gaia, die breitbrüstige, allernährende Mutter Erde, zeugt und gebiert den Uranos, den bestirnten Himmel, auf daß sie, bisher trotz aller Geburten jungfräulich ganz und gar, endlich auch die Beglückungen innigster Zweisamkeit erführe:

       Es war, als hätt’ der Himmel

      Die Erde still geküßt,

       Daß sie im Blüten-Schimmer

      Von ihm nun träumen müßt.

      Dies ist ein letztes, sublimes, sozusagen in zärtlichstes Pianissimo entrücktes Echo Hesiods: die Erde erzeugt den Sternenhimmel, um durch die nächtliche Umarmung des eigenen Sohnes einmal auf die übliche Weise Mutter zu werden.

      Der Inzest ist unvermeidlich. In jener kosmischen Frühzeit sind alle Wesen eng blutsverwandt, Töchter und Söhne einer einzigen Mutter. Was manche als Perversität bestürzen mag, dient geradezu der Normalisierung des Weltprozesses. Der außergewöhnliche Folgen zeitigende Mutter-Sohn-Inzest von Gaia und Uranos bewerkstelligt die Beschleunigung der Evolution, eine offenkundige Bereicherung und Multiplikation des Kosmos. Die hierogamische Blutschande, die eine unerhörte Maßlosigkeit zu sein scheint, wirkt als Akt der Berichtigung und Neuordnung des Lebens. Darüber hinaus steigert er dessen Fruchtbarkeit, Fülle und Vielgestalt. Der Inzest fungiert bei Hesiod als Initiative der normalen Sexualität. Geschlechtliche Fortpflanzung, Elternzeugung und schlußendlich sogar Ehe, Familie und Sippentum werden durch blutschänderischen Frevel angeregt, veranlaßt und eingeführt.

      Hesiod gibt damit zu verstehen, daß am Anfang so vieler Dinge und Einrichtungen, die uns ehrwürdig und teuer sind, etwas Ungeheuerliches steht. Die Untat als Urheberin guter, lebensnotwendiger oder lebendienlicher Schöpfungen und Werke — ob Kult, Seßhaftigkeit, Städtebau, Staat, Recht, Friedensordnung, Verfassung: läßt sich nicht allemal zu Beginn ein Umsturz, Mord oder sonst ein Tabubruch ausmachen, oft nur in mythischen Bildern überliefert? Der Brudermord bei der Gründung Roms, die Kriegszüge Alexanders als Grundlegung eurasischer Ökumene, die Exzesse der Revolutionen als Feuerzauber der Neuzeit … Eine alte rumänische Ballade, die wahrscheinlich thrakischen, möglicherweise sogar vorindoeuropäischen Ursprungs ist, besingt das Werk des Baumeisters Manole (Emanuel, „Gott mit uns”). Im Traum empfängt er die Offenbarung, daß das von ihm entworfene Haus nur dann dauern könne, wenn ein lebender Mensch in dessen Gemäuer für immer eingeschlossen werde. Dies geschieht denn auch am nächsten Morgen. Der geopferte Mensch als Grund-, Eck- oder Schlußstein dessen, was Bestand haben soll … Man kann diese Legende als sadistische Phantasmagorie kannibalisch-unaufgeklärter Weltalter abtun, um den Preis, daß ihr anzüglicher Sinn verborgen bleibt. Spricht sie nicht mit schauervoller Deutlichkeit unumwunden aus, was Hesiod wußte, was alle ursprünglichen Überlieferungen mehr oder weniger kryptisch bekunden: Kein Gebilde, keine Stiftung, kein Bauwerk hat Dauer, wenn es nicht dem Ungeheuren und Schrecklichen benachbart, wenn es keine Geburt aus tödlich scheinendem Dunkel ist.

      Ich behaupte nichts, ich frage nur ahnungsvoll, belehrt durch Hesiod, den Dichter des kosmogonischen Inzests.

      Gaia, die Erdfrau, paart sich mit ihrem Himmelssohn Uranos. Hesiod erinnert damit an uralte Mythen, die schon zu seinen Lebzeiten verblaßt und kaum noch verstehbar waren. Er hält fest, daß einst im gesamten östlichen Mittelmeerraum wie in Kleinasien, Ägypten und Mesopotamien Kulte verbreitet waren, in deren Mitte eine Muttergöttin stand, die zu ihrem Geliebten meist ihren eigenen Sohn oder auch Bruder auserkoren hatte. Die Namen des Paares wechseln, aber alle folgen ein und demselben Urbild: Innana und Dumuzi, Ischtar und Tammuz, Anat und Baal, Aschera und El, Astarte und Adonis, Kybele und Attis, Isis und Osiris, Rheia und Kronos … Sogar bei Dante klingt noch abgewandelt etwas davon an, wie überhaupt im katholischen Marienkult, wenngleich, wie sich von selbst versteht, in spiritualisierter, mystisch-allegorischer Form:

       Vergine madre, figlia del tuo figlio

       Umile ed alta più che creatura

      Termine fisso d’eterno consiglio,

       Tu sei colei che l’umana natura

       Nobilitasti si, che il suo fattore

      Non disdegnò di farsi sua fattura.

      In der Übersetzung von Stefan George:

       Jungfrau und Mutter! Tochter deines sohnes!

       Voll demut und voll würde wie kein wesen

      Nach vorbestimmtem rat des ewigen Thrones.

       Du machtest unsre menschheit so erlesen

       Und edel, dass der schöpfer selbst geruhte

      Geschöpf zu werden dessen du genesen.

      Hesiod erinnert an Zeiten, in denen Mutter-Sohn-Inzucht und Geschwisterehen offenbar nicht grundsätzlich für anrüchig, sondern als heiliges Vorrecht erlesener Ausnahmemenschen erachtet wurden, als imitatio divina der heiligen Hochzeiten, die Gaia und ihr Sohn Uranos feierten.

      Durch das hierogamische


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