Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Vom Geist Europas - Gerd-Klaus Kaltenbrunner


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indes doch nur zivilisierte, ja untergehende Gesellschaften dazu imstande sind, nicht aber in Schöpfungsfrühe hinaufreichende, ihr kongeniale Völker.

      Hesiod hat keinen der hundert und aberhundert Götter, die er in seinen beiden erzenen Großgedichten nennt, ausgedacht und hergestellt. Er hat sie eräugt, weil sie sich ihm erweislos gezeigt haben. Hesiod hat sie beseligt gesichtet, in verzücktem Lobpreis rühmend, manchmal aber auch in der Seele erschaudernd ob der Übergewalt der mit dem Siegel des Unerfundenen und Unvordenklichen visionär geschauten kosmischen Vorgänge.

      Kein lieber Gott offenbarte sich ihm, sondern eine allerschütternde Kaskade von Göttern, Dämonen und Monstern. Titanen und Giganten sah er, kannibalische Kämpfe und vulkanische Kataklysmen. Augenblicke gab es, in denen ihm bangte, es könne ihn das grausame Geschick Aktaions ereilen, der unbefugt die Göttin im Bade sah. Aber Hesiod war ausgelost, sie schauen zu dürfen. Er war bevollmächtigt, nicht nur ein göttliches Wesen nackt zu erblicken, sondern das Pantheon: nicht nur die in seligem Lichte lebenden Olympier, sondern auch die unterweltlichen Numina — Hades und Tartaros, Erinnyen und Nemesis, Nyx und Erebos, Gorgonen und Graien, Styx und Hekate, Kerberos und Typhaon. Die Hölle ist wahrlich keine christliche Erfindung …

      Hesiod schaute all dies, ohne zu erstarren. Erblickte der ungeheuren Macht des Negativen unbeirrt ins grause Antlitz und hielt ihre erdgeschichtliche Katastrophen herbeiführenden Paroxysmen fest. Untergang, Tod und Hölle feige nicht wahrhaben zu wollen, stand Hesiod nicht zu. Erblickte nicht weg, er verweilte im Angesicht des Schrecklichen ohne tödlichen Schock. Mit hartem Auge faßte und fixierte er auch das Grauen, hielt ihm unverwandt stand und hielt es sorgfältig fest.

      Kein Dichter, und sei er noch so trickreich, vermag zu erfinden, was Hesiod schaute und sang — ohne durch Medusenblick zu versteinern. Nichts von dem, was wir in seiner Theogonie lesen, hat er, der eher schwerfällig herbe Dörfler aus boiotischem Gau, listig ausgesonnen. Er schaute es überwältigt unnachgiebig, erschauernd festbleibend. Er bekundete und enthüllte die Visionen, wie nur je ein gottergriffener Prophet. Er bezeugte, was sich nicht aushecken läßt, sonden nur entdecken. Das uralte, längst zu formelhafter Floskel herabgekommene Wort vom Dichter als begeistertem Sprachrohr und Mundstück des ihn erfüllenden, antreibenden und zum Tönen bringenden Genius, hier ist’s, wenn irgendwo, Ereignis. Der Begriff Offenbarung beschreibt den Tatbestand mit algebraischer Exaktheit.

      Nicht nur beim Baden sah Hesiod unzählige nackte Götter, um dann Name für Name die fünfzig Töchter des Nereus, von den dreitausend Okeaniden immerhin deren einundvierzig litaneigleich zu katalogisieren. Ohne ein Voyeur zu sein, vielmehr mit der erhabenen Unbefangenheit eines arglosen Riesenkindes, eräugte und belauschte er auch ihre Umarmungen, Beilager und Hochzeiten, ihre Amouren, Buhlschaften und Liaisons.

      Nicht einen lieben Gott entdeckte Hesiod, wohl aber unermeßliche Scharen liebender Götter. Ein Pantheon von ehelicher wie außerehelicher Liebe pflegenden Gottheiten bezeugt der schaubegnadete Dichter. Sie sind wollustatmende, sinnenfreudige, nach geschlechtlicher Erfüllung verlangende und Wonnen wie Qualen leidenschaftlicher Liebe auskostende Wesen und Mächte. Es gibt Götterehen, Götterkonkubinate und Götterliebeleien, aber auch Götterblutschande, Göttergattenmord und in schaurigster Morderotik sich austobenden Götterliebeswahn.

      Diese erotisch schwelgenden, in geschlechtlicher Üppigkeit sich verschwendenden Götter sind keine Eunuchen, keine antikonzeptiven, keine unfruchtbaren oder sterilisierten Götter. Ihre Brunst und Lust äußert sich in überschwänglicher Fülle. Göttlichkeit ist sich selbst mehrendes Leben.

      Die griechischen Götter unterscheiden sich von den Menschen nicht durch ihr Schöpfertum, sondern durch ihre Fruchtbarkeit. Unsterblichkeit kommt zum Tragen in unausschöpflicher Werdelust, Zeugungslust und Gebärungslust.

      Der griechische Gott mußte nie die Last auf sich nehmen, Mensch zu werden. Im Grunde war er ein Makro-Anthropos, ein mit Majuskeln geschriebener Mensch, ein ins Große übersetzter homo ludens. Als solcher erscheint er vor allem bei Homer. Oder der Gott verkörpert eine Lebensmacht, ist Gestalt gewordenes Amt, Element und Widerfahrnis: Eros und Krieg, Weinrausch und Dichtung, Nacht und Schlaf, Morgenröte und Regenbogen, Wald und Meer. Göttlich ist alles, was Menschen trägt und beflügelt, entzückt und bedroht, erstaunen und erzittern läßt. Der Unterschied zwischen Göttern und Menschen ist einer der Lebenskraft oder des Temperaments, somit duch Übergänge und Stufen vielfältig verbunden, nicht aber ein ontologischer Abgrund wie der von Schöpfer und Geschöpf. Beide sind geboren und geworden.

      Die Götter Hesiods leben nicht von jeher. Sie sind das Ergebnis einer Evolution. Rückschauend erweisen sie sich als ebensowenig ewig wie die Menschen. Nur im Hinblick auf die Zukunft währt ihre Lebensfrist ewig. Götter wie Menschen sind nicht gemacht, sondern gezeugt. Ihre Geburtlichkeit verbindet sie. Ebenso teilen sie, nur graduell verschieden, Neigungen, Schwächen und Geistesgaben. Was sie voneinander trennt, ist nicht die Geburtlichkeit, sondern das Privileg der Unsterblichkeit, das nur den Göttern zukommt, während der Mensch wesenhaft der Sterbliche ist. Göttern vorbehaltene Unsterblichkeit aber gibt sich kund in opulenter Fruchtbarkeit.

      Hesiod war Landmann. Er besaß Herden, die er weidete. Wie der jüdische Gott sich den Schafe hütenden Moses, David und Amos offenbart, so fahren die Musen vom Helikon den Hirten Hesiod an, bevor sie ihn heißen, sich aus dem Zweig eines blühenden Lorbeers den Seherstab zu schneiden, und ihm die Genealogie der Götter enthüllen. Für den Landmann Hesiod sind Zeugung, Geburt und Fruchtbarkeit die ausschlaggebenden Kategorien. Der Bauer und Hirt weiß ohne weiteres Zutun, daß alles daran hängt. Das meiste nämlich vermag die Geburt, so viel auch wirket die Not und die Zucht. Hesiod denkt genetisch und generativ, nicht technomorph oder demiurgisch.

      Er könnte aber nicht so denken, wäre ihm nicht tagtäglich das Urphänomen des sich geschlechtlich vermehrenden Lebens anschaulich greifbar und wirksam gegenwärtig. Ob Wiese, Acker oder Herde: überall Same, Keim und Frucht. Korn, Traube und Rind müssen gepflegt, sie können gezüchtet werden, aber niemals gemacht. Reichtum ist in agrarischer Sicht das Ergebnis biotischer Vorgänge, nicht technischer oder maschineller. „Kapital” bedeutet eingebrachte Getreideernte; volle Scheunen und Keller; heckendes, ferkelndes, fohlendes, frischendes, kalbendes, lammendes Vieh; die geworfenen Tierjungen, die einem einzigen Weizenkorn entstammende Ähre sind die „Zinsen”. Mensch, Tier und Pflanze sind aufeinander angewiesen. Sie sind Symbionten. Als Kinder und Kindeskinder der Erde bilden sie eine weitverzweigte Sippe. Der ganze Kosmos bildet einen Generationszusammenhang.

      Wie auf Erden, so im Himmel. Im Anfang war nicht ein Macher, sondern die Gebärerin. Wenn aber im Anfang das Wort war, dann gewiß nicht der Logos der Philosophen, sondern der Schrei der Kreißenden und das Lallen des Säuglings, der Ruf nach der bergenden, nährenden und tröstenden Amma und Mamma. In fast allen Sprachen kehrt dieser Ausdruck wieder, ohne daß von Entlehnungen und Einflüssen die Rede sein kann. Das Mutter-Wort ist das Urwort aller Muttersprachen der Welt, so wie die Mutterschaft zu den Universalien der menschlichen Gattung gehört und, wie der Kampf, sich dem Erforscher der Phylogenese als älter denn die Species Homo sapiens, als Erbe millionenjähriger Stammesgeschichte bezeigt.

      Wenn nach einem berühmten, meist mißverstandenen Wort Heraklits Kampf der Vater aller Dinge ist, dann ist die säugende, speisende und sprachbildende Frau die Mutter Friede aller Dinge.

      Und eben dies ist die ältere, die grundlegendere, die mit dem Siegel einer Offenbarung bezeugte Kunde des Hesiod: die Menschen, Götter und Elemente, Himmel, Erde und Unterwelt als eine einzige Genesis, als Invasion von Geburten und Abergeburten erweisende Ur-Kunde des Seher-Sängers, des auf kosmische Auen leitenden Dichter-Hirten, Völker-Hirten und Lehrer-Hirten von Askra.

      Natura ist wie die griechische physis ursprünglich und wesentlich nascitura, das heißt: Geburt, Geburt und wieder Geburt, Geburt und Wiedergeburt, Geburt im dreifachen Sinne, nämlich Gebären, Geborenwerden und das Ausgeborene. Was bei Thomas von Aquin anklingt, was dann bei Böhme und Baader in barocker Weise theosophisch zentral wird, das ist bei Hesiod protoplasmatische Vision. Die Geburt ist der wahre Ursprung aller Dinge. Alle Dinge und Wesen, eingeschlossen die Götter und Regenten der kosmischen Ordnung, haben eine Mutter.

      Das Sein entbirgt und entbindet sich im Antlitz des maieutischen Hirten


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