Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner
des ideenhaften Prinzips in uns, somit als lebensbildende Philosophie gelten darf. Der universelle platonische Geist blitzt auf, seine Freude am Denken und die staunenswerte Feinfühligkeit für das Wunderbare.
„Sooft uns Platon lächelt, wird es aufgeräumter, heller und freundlicher in Europa“, schreibt Kaltenbrunner und verweist darauf, dass dem unschuldig verurteilten Christen Boethius die Trost spendende Philosophie im platonischen Gewand erscheint, mit dem gebieterischen Aufruf, das Höchste zu wagen. Als besonderes Qualitätsmerkmal des vielstimmigen Gesprächs in diesen Essays tritt die innere Verbindung zwischen Personen, Zeiten und Landschaften in Erscheinung. Stifters „Sanftes Gesetz“ wird im „Trost der Philosophie“ des eingekerkerten Römers vorweggenommen und das kosmo-theologische Gebet in der Mitte der „Consolatio“ enthält – so Kaltenbrunner – den Grundriss von Dantes Weltbild und seiner „Göttlichen Komödie. In dem Aufsatz über die Indoeuropäer erfahren wir, dass es Spuren einer kollektiven Erinnerung an eine Heimat in nördlichen Gebirgen gibt, und das baltische Lettland entzückt als verschwiegener Raum hoher Poesie.
Den Reigen großer Dichtergestalten eröffnen Vergil, der Schöpfer der „Bucolia“, „Georgica“ und „Aeneis“, der stille Sänger des Augusteischen Friedens und des „ewigen Italiens“, sowie Ovid – Urheber des Weltgedichtes der „Metamorphosen“ –, verbannt zu den barbarischen Geten ans Schwarze Meer. An den Pontos Euxinos der Alten grenzt das Dreiecksland Georgien. Um 1200 lebte dort Schota Rustaweli, Dichter, Astronom und Finanzminister der Königin Thamar. In dem Hohelied der Liebe „Der Recke im Tigerfell“, welches 2013 zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde, huldigt er seiner ruhmreichen Königin, besingt den Sieg des Lichtes über die Finsternis, des Mutes über die Verzweiflung. Ein ganz anderer Weltroman entsteht in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in dem vom Dreißigjährigen Krieg verheerten Deutschland: „Der abenteuerliche Simplicissimus“ des sich hinter einer Vielzahl von Decknamen verbergenden Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Kaltenbrunner bescheinigt diesem monströsen Werk eine wahrhafte „Simplicität“, eine gottkindliche Einfalt, die in barocker Bilderträchtigkeit und Wortmacht zur Sprache kommt. Eigenwillig und souverän beurteilt der ungemein belesene Essayist Gestalten wie Novalis, den er einen „konservativen Revolutionär“ nennt, oder Justinus Kerner, Arzt, Dichter und Geisterseher, Gesprächspartner von Görres und Franz von Baader. Das Werk des 1936 in Salamanca verstorbenen Dichter-Philosophen Miguel de Unamuno, des großen Gegenspielers Ortega y Gassets, bleibt für den Schriftsteller im Schwarzwald ein Desiderat: „die verlegerische Wiederentdeckung ist mein Wunschtraum“. Den „prince des poètes français“, Pierre de Ronsard, feiert er als „griechischsten“ der Franzosen. Transsilvanien (Siebenbürgen) ist die Heimat des Rumänen Lucian Blaga, des tragischen Dichters in tragischer Zeit. Er wird als Visionär hellsichtiger Ekstasen gerühmt. Der tschechische Dichter Otokar Brezina, der eigentlich Václav Ignác Jebavý hieß, der den Gedanken der Brüderlichkeit aller Menschen in einer Art planetarischer Geschwisterlichkeit vertritt, bezaubert mit seinem hymnischen Werk, seiner kühnen Metaphorik und freien Rhythmik.
Aus mehreren Gründen ist der Essay über Edward Gibbon von besonderer Bedeutung. Amüsante autobiografische Einschübe entführen den Leser in die von lateinischer Kultur und römischem Flair durchwobene Kindheit Kaltenbrunners: „Wenigstens zur Hälfte habe ich mich von Kindesbeinen an für einen Römer gehalten“. Die fast mit Händen zu greifende Präsenz üppigen römischen Erbes findet der Autor gewissermaßen vor der Haustüre. Er schürft aber weit tiefer, denn er entwickelt facettenreich den Gedanken des „Ewigen Roms“. Wien als Sitz der Habsburger bewahrte die Reichstradition und setzt in einer „translatio imperii“ den Gedanken des Heiligen Römischen Reiches fort. Eine Art Mutation zum „imperium spiritualis“, möglicherweise konvergierend mit dem Reich des Heiligen Geistes, welches der Seher Abt Joachim von Fiore weissagte: All das wird in verschlungenen und vielfach sich ergänzenden und überschneidenden Gedankenverbindungen expliziert. So kommt denn auch die Idee des Kronenwächters (Achim von Arnim) zur Sprache: „Die wahren Kronenwächter sind keine ränkespinnende Kamarilla und auch keine politische Sekte, sondern all jene, die im stillen (und vielfach mißverstanden) all das zu erhalten und zu fördern trachten, was uns nach allen Katastrophen noch geblieben ist, die einzige Bastion gegen Selbstentfremdung und Würdelosigkeit: unsere Sprache, die tätige Erinnerung an die Höhepunkte unserer Kultur, die person-und nationstiftende Aneignung des in mehr als einem Jahrtausend angesammelten geistigen Erbguts, auf daß unter einem günstigeren Stern darauf wieder einmal etwas Ordentliches nachwachsen könne.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 3)
Edward Gibbon, Experte für den Fall und Untergang Roms, der unreligiöse Skeptiker, welcher das Christentum als einen das Römische Reich infizierenden Bazillus betrachtete, wird als Althistoriker gewürdigt. Man kann diesem universalen Geist die Bewunderung nicht versagen, auch wenn man seinen Thesen nicht zustimmt.
Was wäre Europa ohne den Raum des Numinosen? Die kultische Verehrung des sagenumwobenen Tyaneers Apollonius beschäftigt den Ideenhistoriker Kaltenbrunner ebenso wie die hohe Theologie des Heiligen Augustinus. Der Nordafrikaner aus Tagaste, größter Lehrer der ungeteilten Christenheit, begründet mit seinen berühmten Bekenntnissen („Confessiones“) und dem Gottesstaat („De civitate Dei“) die Geistesgeschichte des Abendlandes. Das Geheimnis der Zeit, Demut und Hochmut, die Entfremdung des zur Pilgerschaft verurteilten Menschen, all das verbindet der Kirchenvater in einer genialen Schau.
Eine spirituelle Landschaft, deren Glanz und mystische Tiefe vor allem durch Erika Lorenz Neubelebung erfuhr, breitet Kaltenbrunner, der Gesprächspartner der Romanistin, vor uns aus: die hispanische Welt. Gestalten wie Teresa von Ávila und Juan von Ávila, Francisco de Osuna und Ignatius von Loyola kennzeichnet er als außergewöhnliche „Erfahrungsmenschen“. Der Troubadour Gottes, Ramon Llull aus Mallorca, seit seiner Bekehrung den Dialog zwischen Islam und Christentum seeleneifrig und wortmächtig betreibend, endet als Märtyrer. Er wird um 1316 von fanatischen Moslems gesteinigt. „Mit dieser Undurchdringlichkeit und Irreduzibilität der großen Offenbarungsreligionen müssen wir uns abfinden, sei’s als Mystiker, sei’s als Skeptiker oder auch beides zugleich. Die religiöse Vielfalt der Welt gehört zu jenen geistigen Beständen, mit denen wir zu leben, in denen wir uns einzurichten haben.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 1) Die iberoamerikanische Literatur hat einen dem Geiste nach durch und durch alteuropäischen Vertreter, den Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila, Selbstdenker und Antimodernist, Meister hispanischer Prosa. Hier sei wenigstens einer seiner juwelengleichen Aphorismen zitiert: „Der Kampf gegen die moderne Welt muss in Einsamkeit geführt werden. Wo zwei sind, ist Verrat.“
Man hat immer wieder hervorgehoben, dass es für den Polyhistor aus Kandern kaum ein Tabuthema gab. Mit Verve und Sachkenntnis erforschte und analysierte er literarische, religiöse und politische Zusammenhänge. Von der denkwürdigsten Liebesgeschichte des Mittelalters, der Leidenschaft der schönen Heloise und ihres Lehrers Abaelard, weiß er ebenso geistreich zu berichten wie über die Heilige Katharina von Siena (1347–1380). Die Färberstochter, die, wenngleich Analphabetin, flammende Briefe an Fürsten, Kardinäle und Päpste richtet, tritt auf als eine geniale, wortgewaltige Züchtigerin und Prophetin. Ihre Blutmystik ist leibbezogen und sinnenhaft. Sie ist der energetische Impuls ihres männlich kühnen Handelns.
Unerschöpflich leuchtet die Mystik von Meister Eckhart (1260–1328) durch die Jahrhunderte. Seine Lehre von der Gelassenheit und der Entsagung des wesentlich gewordenen Menschen, die Bereitschaft, „Gott um Gottes willen zu lassen“, und der Gedanke vom „Seelenfünklein“, mit dem der Mensch alle Kreatur überragt und teilhat an der göttlichen Natur, all dies trug ihm letztendlich den Vorwurf der Häresie ein. Seine Verurteilung hat er nicht mehr erlebt. Wohl aber wirken seine Gedanken exemplarisch auf die Nachwelt. Im 19. Jahrhundert wird Franz von Baader Meister Eckhart neu entdecken, und in der Kette der Denker, die sich über Cusanus und Paracelsus bis Schopenhauer erstreckt, kommt dem Görlitzer Schuster Jakob Böhme (1575–1624), dem philosophus teutonicus, besondere Bedeutung zu. Kaltenbrunner urteilt: „Wer … wenigstens in gewissen Stunden ein Organ für das hat, worum es Meister Eckhart geht, wird zumindest gelegentlich nach den Schriften des Meisters selbst greifen wollen. Auch heute noch, mehr als sechshundert Jahre nach seinem Tode, wirkt Eckhart wesentlich durch seine Sprachgewalt. Sie ist imstande, selbst Menschen, die sich keiner Kirche oder Konfession verbunden fühlen,