Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner
daß diese Sprachgemeinschaft nordischzirkumpolaren Ursprungs ist. Was aber bedeutet Nord? Ist es nicht überaus aufschlußreich, daß alle Himmelsrichtungen nach Sonnenständen bezeichnet werden — mit Ausnahme des Nordens? Nord(en) leitet sich ab vom altnordischen „nor”, und dieses Wort bedeutet: „Felsen”. Es gibt so etwas wie eine indoeuropäischen „Nordzug”, Spuren einer kollektiven Erinnerung an eine Heimat in nördlichen Gebirgen. Dort liegt ja auch die Sommerresidenz des Lichtgottes Apollon. Der Eindruck der steinig nackten Felsengegenden, wie sie die Arktis und Subarktis beherrschen, fand auch seinen Niederschlag in zahlreichen kultischen Eigentümlichkeiten. Der Altar der Artemis auf Delos war zum Beispiel völlig aus Ziegenhörnern zusammengesetzt — eine Besonderheit, die man sonst nur bei arktischen Völkern, einschließlich der Lappen, beobachten kann. Insbesondere Apollon und die von den Römern mit Diana gleichgesetzte Artemis stehen in einem Nordbezug, dessen Anfänge bis in jene Urzeiten hinabreichen, da auf Grönland noch Magnolien blühten.
Ähnliche arktisch-polare Spuren finden sich, worauf Werner Müller aufmerksam macht, auch bei einigen Indianerstämmen. So wenden sich zum Beispiel die Schamanen der kalifornischen Pomo bei allen Riten einmal nach Osten, Süden und Westen, aber dreimal gegen Norden, „denn von dort ist alles ausgegangen”. Am Anfang der Indoeuropäer steht möglicherweise ein steinzeitliches Jägervolk, das dem rauhen Dasein in Schneesteppen gewachsen war und in symbiotischer Weise mit seinen Rentierherden zusammenlebte. Seine erste größere Ausbreitung scheint sich hingegen im südöstlichen Teil Rußlands vollzogen zu haben.
Bemerkenswert sind Haudrys Ausführungen über die indoeuropäische Auffassung vom Kriege. Sie entzieht sich völlig dem modernen Entweder-Oder von „Pazifismus” und „Militarismus” (oder „Bellizismus”). Einerseits gilt Krieg als Normalzustand, Friede als kurzfristige Ausnahme. Diese Haltung erinnert an Heraklits Spruch: „Der Kampf ist der Vater aller Dinge”. Krieg wird geführt, um „Lebensraum” zu gewinnen, zwecks Verteidigung des heimatlichen Bodens, um eine Beleidigung zu rächen, einen Aufstand zu unterdrücken, einen Vasallen drastisch an seine Botmäßigkeit zu erinnern, aber auch um „unverwelklichen Ruhm” zu erlangen. Zugleich besteht die Neigung, Kampf, Streit und Fehde rituell zu zügeln, ja als „Spiel” aufzufassen: als eine Art von Match, bei dem die Götter als Schiedsrichter wirken. Der Krieg ist im Idealfall kein wildes Gemetzel, sondern ein heroisches Meeting, in dem unter Einhaltung zähmender Zeremonien zwei Gruppen — bisweilen stellvertretend für ihre Völker auch nur zwei sich duellierende Könige oder Heerführer — ihre Kräfte auf festliche, beinahe liturgische Weise messen. Der Feind soll besiegt, nicht aber vernichtet oder auch nur entwürdigt werden. Flucht ist nicht von vornherein schändlich, wenn der Kämpfer bemerkt, daß die Schlacht eine für ihn ungünstige Wendung nimmt, weil die Götter ihm diesmal nicht wohlwollen. Wir gewahren hier eine archaische Völkerwelt, der zu unserem Erstaunen der Gedanke eines Ausrottungs- oder Vernichtungskrieges völlig fremd ist. Der Feind gilt nicht als Unhold oder Verbrecher, sondern geradezu als Gefährte, Kamerad und Mitspieler in einem athletischen Wettkampf, der nach strengen Regeln geführt wird. Der Krieg wird nicht als Massenschlächterei verstanden, sondern als eine kultische und kultivierungsfähige Auseinandersetzung agonaler Art. Er ist grundsätzlich ein „gehegter Krieg”, in dem keineswegs alle Mittel zur Bezwingung des Gegners erlaubt sind. Unsentimental ritterliche „Feindesliebe” fiel frühgeschichtlichen Männern, die noch nichts von der Bergpredigt gehört hatten, im Ernstfall leichter als einem im „seichten sumpf erlogner brüderei” (Stefan George) von Humanität und Menschenrechten aufdringlich schwätzenden Geschlecht.
Auch zu solchen durchaus aktuellen, wenngleich vom „Geist der Zeit” verpönten und tabuierten Überlegungen kann das dem Umfang noch kleine, von Thematik, Gehalt und Perspektive her jedoch gewichtige Buch des französischen Gelehrten anregen. Die Indoeuropäer sind nicht länger ein „linguistisches Phantom”, sondern eine unverwechselbare Ausprägung oder kulturelle Selbststilisierung und psychosoziale Lebensform der menschlichen Natur. Ihrer Eigenart wird nur gerecht, wer über den Besonderheiten das Allgemeinmenschliche nicht vergißt und über dem Allgemeininenschlichen sich bewußt bleibt, wie mannigfach die Erscheinungsweisen des Humanen in Sprache, Mythos, Kultur und Gesellschaftsaufbau sein können.
(1987)
Kolumnentitel
Hesiod
Wie die Griechen zu ihren Göttern kamen
Matéros aglaòn eidos
Mit Hesiod zu beginnen, heißt mit dem Beginn zu beginnen. Hesiod ist der Erste in so vielen Hinsichten. Das Abendland hebt mit ihm an. Hesiod ist der erste dichterisch blühende Zweig am Baume des Okzidents. Hesiod ist Arche ganz und gar.
Arche ist Hesiod in des Wortes doppelter Bedeutung. Arche ist er als der schlechthin Erste, der mit dem ersten beginnt: der arché. Árche ist Hesiod, weil er das Fahrzeug ist, mit dem er urälteste, bereits zu seinen Zeiten vom Aussterben bedrohte Überlieferungen des Ostens durch Weltuntergänge hindurch gerettet hat.
Hesiod der Erste, Hesiod unvergleichbar, nachfolgelos und einzig: Hesiod der Archäus und Archon des Abendlandes, ohne dessen durch die Jahrtausende hallendes Wort wir über die Ursprünge nichts wüßten!
Hesiod, der Künder der Ursprünge! Der beginnliche Mann, der Noah seelengeschichtlich frühester Weistümer und Weisungen …
Weltreiche schwanden, Völkerschaften versanken, Geschlechter von Gottkönigen starben aus, aber Hesiods Lehre und Weisheit währt bis auf den heutigen Tag.
Hesiod preise ich, denn sein Erscheinen ist die Einsetzung und Besiegelung europäischer Poesie, die mehr ist als Reimgeschwätz und versifizierter Putz.
Mit Hesiod setzt ein abendländische Dichtung als Prophetie, der Dichter als weissagender Seher, als eingeweihter Kundiger und Kundiger der Gottheit, als Enthüller und Liturge von Hierophanien und Theophanien.
In Hesiod sind archetypisch-paradigmatisch vorweggenommen die in Weltallsphären ausgreifenden Kundschafter und, wenngleich in unterschiedlichstem Maße, beglaubigten Gottesschauer: der auf der Insel Patmos von prophetischen Gesichten überwältigte Apokalyptiker Johannes; der die drei Reiche des Jenseits, Kreis für Kreis, durchschreitende Florentiner Dante; der alles Vergängliche verzückt als Gleichnis gewahrende Schöpfergeist der Deutschen, Goethe, der Dichter Fausts.
Wer von Hesiod spricht, nennt mittelbar auch das Eddalied Völuspa und das Kalevala, das Muspilli und die Miorita, das Nartenepos und die Kosmogonien der Orphiker.
Hesiod, diese ehrwürdige Vokabel, der Widerhall auch der altägyptischen Pyramideninschriften, des Gilgameschliedes, des Rigveda, der Upanishaden und der Bhagavadgita, der keilschriftlichen Weltentstehungsberichte des Zweistromlandes und Anatoliens. Durch Hesiods griechischen Mund echot zu uns sogar Opfermythos sibirischer Schamanen und Kult innerasiatischer Wanderhirten.
Hesiod gleicht der Korykischen Grotte in Kilikien. Menschgewordene Höhle ist der Dichter. Von der Muse getrieben, hallt durch die Weltalter sein göttlich stammelndes Wort. Durchtönt von seinem Altvaterlippenpaar ungeschminkt Unvordenkliches, manchmal von ihm selbst kaum begriffen, aber im Gesange berührt.
Angelockt von ihrer archaischen Schönheit, verlieren wir uns zuletzt im Höhlenwald der Stalaktiten und Stalagmiten, in tropfenschlägig versteinerten Ergießungen ältester Erdgeschichte. Gezogen von ihren kristallisierten Reizen, erzittern wir zuletzt in heiligem Dunkel vor der Majestät des hier hausenden Gottes.
Hesiod ist mehr als ein großer Name, mehr als der erste namentliche, sich selbst nennende Dichter Europas. Hesiod gehört zu jenen gewaltigen Namen der Aventiuren abendländischer Seelen- und Sinngeschichte, in denen etwas über das Menschliche hinauswächst. Hesiods Dichtertum ist mehr als eine biographische Erscheinung, es ist Instrument und Maske einer Theophanie, eines untrüglichen Offenbarwerdens des Göttlichen: Nomen, numen …
Der vom Mysterium tremendum, vom Mysterium fascinans ergriffene Dichter erfindet keine Gottheit, keine einzige. Bloß Spätlinge unterwinden sich, gebastelte Götter zu unterstellen und bringen höchstens geistreiche Allegorien oder witzigen Spuk zustande.