Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner
‚Volk‘, ‚Nation‘ oder ‚Reich‘ gilt auch ‚Elite‘ weithin als ein antiquierter, ja sogar anrüchiger Begriff, der vielfach einer systematischen Ächtung und Verfemung unterliegt.“ Dieser nonkonformistische Standpunkt zielt auf eine Abschaffung des Kultes der Mittelmäßigkeit. Gesprächsweise äußerte sich Kaltenbrunner: „… die Weltgeschichte wird nun einmal nicht von Kaufleuten, Händlern und Kommerzienräten bewegt, sondern von Kämpfern, von Soldaten, von Partisanen, kurz: von glaubensstarken und zum Martyrium bereiten Eliten.“ Mit Vilfredo Pareto betrachtet er nur die Funktionseliten als wertfrei.
Zwischen 1981 und 1992 nahm das Europawerk des Schriftstellers sichtbare Form an. Sechs monumentale Bände erschienen: die Trilogien „Europa. Seine geistigen Quellen in Porträts aus zwei Jahrtausenden“ (1981, 1983, 1985) und „Vom Geist Europas“ (1987, 1989, 1992). Kaltenbrunner schreibt: „Europa. Dieses Inbild ‚okzidentalischen‘ Wesens begleitet mich zeit meines zum Denken erwachten Lebens: die Vision eines Hauses mit vielen Wohnungen, eines Domes mit vielen Kapellen, eines Lebensraumes oder einer ‚oika‘ mit vielen Gebieten, Nischen und Höhenstufen. Es ist dies ein anderes Europa als der halb euphorisch begrüßte, halb fatalistisch hingenommene Binnenmarkt gleichen Namens.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 3, Geleitwort)
Rastlos forschend, reflektierend, von ungeheurer Belesenheit und Anverwandlungsgabe deckt Kaltenbrunner Traditionszusammenhänge auf, entführt den Leser in verschwiegene spirituelle und historische Landschaften und erforscht behutsam die Quellen europäischen Denkens und Handelns. Dieser homme de lettres ist nach altem Verständnis einer, der in Sprache zu denken und zu fühlen, zu forschen und zu erkennen, zu ahnen und zu träumen weiß. Er vermag es, unnachahmlich elegant die unterschiedlichsten Figuren der europäischen Geistesgeschichte zu verlebendigen. Es gebührt dem Ares-Verlag große Anerkennung, dass die wichtigsten Essays dieses Opus magnum anlässlich des 80. Geburtstages des so früh Verstorbenen in einer Neuausgabe vorgestellt werden.
Ein genialer Schriftsteller bedarf wohl letztendlich eines kongenialen Publikums, einer gebildeten Leserschaft, die mit Freude, Intelligenz und Humor geistreiche Aperçus zu genießen versteht, die resonanzfähig ist und mitzuschwingen vermag, die anspruchsvolle, ja hochfliegende Gedankengänge dankbar begleitet. Kurzum: Er bedarf der vom Aussterben bedrohten Spezies freier, sich in fremde Visionen hineinimaginierenden Geister, die – um ein modisches Wort zu benutzen – genug Fach- und Sachkompetenz besitzen, um entsprechende Texte verstehen und würdigen zu können. Allerdings, wer spricht, wer schreibt, stiftet auch Missverständnisse. Wenn ein Autor diese alte Wahrheit erlebt hat, so betritt er allmählich die Zone des Schweigens. Es ist viel gerätselt worden über das Verstummen Kaltenbrunners, die zunehmend intensiver werdende vergeistige Abstinenz des Gegenwartsverweigerers.
Seit 1990 wandte sich der fast eremitisch im Schwarzwaldstädtchen Kandern lebende „Traditionalist“ Themen zu, die man als konservative Mystik bezeichnen könnte. Die großen religiösen Ströme, die mythischen und philosophischen Lebensäußerungen aller Völker, die zwar – wie der Philosoph Leopold Ziegler schreibt – in tiefere Schichten absinken können, aber keineswegs unrettbar verloren gehen: All dies beschäftigte Kaltenbrunner. Der transzendente, spirituelle Bereich, der in stillen Augenblicken mystischer Erfahrung im Sinne der „integralen Tradition“ unzerstörbare, übergeschichtliche Botschaften aufleuchten lässt, führte ihn immer tiefer zum geheimnisvollen Urgrund des Universums.
Vor diesem Hintergrund sind auch seine letzten Schriften zu verstehen: „Die Seherin von Dülmen und ihr Dichter-Chronist“ (1992), „Tacui. Johannes von Nepomuk – Brückenheiliger und Märtyrer des Beichtgeheimnisses“ (1993) und „Geliebte Philomena. Kleiner Liebesbrief an eine wiedergefundene Heilige“ (1995), vor allem aber die umfangreichen Bände „Johannes ist sein Name. Priesterkönig, Gralshüter, Traumgestalt“ (1993) und „Dionysius vom Areopag. Das Unergründliche, die Engel und das Eine“ (1996). Dem Mysteriencharakter des Christentums, dessen geschichtlicher Botschaft sowie der heilenden Macht des Sakralen war Kaltenbrunner bis zum Ende seines Lebens verpflichtet. Er sah in der Kirche die große Ästhetin und Mystagogin. Sein Plan, ein Werk über den Priesterkönig Melchisedek aus Salem und über die Großmutter Christi, die Heilige Anna, zu verfassen, konnte nicht mehr verwirklicht werden. Vermutlich hätte er die von dem französischen Metaphysiker René Guénon (1886–1951) vertretene mystische Idee eines übersinnlichen Zentrums, das die Welt regiert und innerlich verbindet, in den geplanten Werken wertend berücksichtigt. Gerd-Klaus Kaltenbrunner verstarb unerwartet am 12. April 2011.
„Der Wissende redet nicht.
Der Redende weiß nicht.“
(Laotse: TAO-TE-KING, Spruch 56)
Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Wer war Gerd-Klaus Kaltenbrunner?
„Alles, was man von mir wissen muss, steht in meinen Büchern“, wiederholte der stets auf Distanz bedachte, jeder Indiskretion abholde und unangemessener Neugierde mit einer gewissen Schroffheit begegnende Schriftsteller, immer wieder. Und doch: Wer ihn kennenlernen durfte, war bezaubert von seiner Einfachheit, Vornehmheit und sprichwörtlichen Grandezza. Ein Intellektueller, der konkurrenzlos den ideellen und symbolischen Reichtum des Abendlandes überschaute. Bezüglich der Qualitätsmerkmale eines Essayisten schreibt er: „… sein Temperament, seine Sensibilität, seine Menschlichkeit ist mindestens so bedeutend wie der von ihm behandelte Gegenstand. … Für den Essayisten gibt es ein Zwiegespräch mit den Toten. Die meisten, im Grunde sogar alle meiner Essays verdanken sich diesem Dialog. In manchem dieser Versuche scheint es mir gelungen zu sein, die eine oder andere Gestalt der europäischen Geistesgeschichte auch für andere – für den mitwirkenden, den sympathetischen Leser – vernehmlich zu machen“. (Dankesrede bei der Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises)
So werden wir versuchen, in den hier vorgestellten Texten Zeitkritisches und bekenntnishaft Biografisches aufzuspüren. Wir wissen heute, dass Europa in all seinem Reichtum, seiner Größe, durch ein falsches Verständnis seiner selbst gefährdet ist. Dies stellt auch die sogenannte Pariser Erklärung aus dem Jahre 2017 fest, die allerdings einem naiven Vernunftvertrauen huldigt und die Komplexität der Probleme des christlichen Abendlandes nicht durchschaut. Nochmals sei hier der große „Gegendenker“ Leopold Ziegler genannt. Seine 1995 neu aufgelegte Schrift „Der europäische Geist“ (erstveröffentlicht 1929) stigmatisiert das Fatum Europas: nämlich die Verwissenschaftlichung des Geistes wie des Lebens, den Verlust des Göttlichen und die damit einhergehende Säkularisierung. Sensible Zeitgenossen dachten ähnlich. Zu nennen wären u. a. Fritz Usinger („Gesänge für Europa“) und Friedrich Franz von Unruh. Letzterer schreibt: „Die Macht aber, die von alters her bestellt ist, den menschlichen Standort zu festigen, die Religion, ist der veränderten Situation nicht gewachsen. Sowohl Christentum wie Islam sind einem Weltbild verhaftet, das die Erde als Mitte des Alls und den Menschen als Sinn und Krönung der Schöpfung versteht. … Durch die alten verhärteten Dogmen hindurchzustoßen und ein tieferes Gottbegreifen und tiefere Ehrfurcht zu lehren, ist der Kirche verwehrt, sie verlöre die Basis“. („Die Macht der Dichtung“) Wir können aus diesen Überlegungen folgern, dass heute das Scheitern des Christentums nicht gegen dieses spricht, sondern einen Mangel seelischer Kultur offenbart. Ziegler warnt davor, die Wiederverchristlichung Europas als eine Wiederverkirchlichung aufzufassen. „Dieses von Neuem entstehende Heilige Reich wird nicht mehr kirchlich überwölbt sein, sondern im Sinne einer überkirchlichen Wiederverchristlichung Leib gewinnen.“ (Bemerkungen zur Neuausgabe von „Der europäische Geist“)
Drei Traditionsströme begründen, mannigfach vermischt, die unverwechselbare Eigenart Europas: griechisches Denken, römischer Realismus und Tatsachensinn sowie das christliche Erbe, welches den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der Freiheit, der Brüderlichkeit, der geistbegabten Personalität, der Erlösungsbedürftigkeit und der erbarmenden Liebe vertritt. Kaltenbrunner postuliert, dass eine übergreifende europäische Völkerordnung ganz im Sinne Johann Gottfried Herders symphonisch orchestriert sein müsste. Den kulturgeografischen Bogen spannt er von Portugal bis Russland, von Sizilien bis Polen, vom Baltikum bis Rumänien.
Zu den Stiftern europäischer Geistigkeit gehören zweifellos Pythagoras – Kosmosoph der sogenannten „Achsenzeit“