Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Vom Geist Europas - Gerd-Klaus Kaltenbrunner


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Sproßten unter den Schritten der Füße, und Götter und Menschen

       Nennen sie nun Aphrodite …

      Schaumgeborene Göttin und Kythereia im Kranzschmuck,

       Kyprosentstandene auch, weil entstiegen der Küste von Zypern

      Und auch Schamerfreute, weil aus der Scham sie entsprungen.

      Eros geleitete sie, und der herrliche Himeros (Liebessehnsucht) folgte,

      Als die soeben Geborne zur Sippe der Götter emporstieg.

      Dieses Ehrenamt und Anteil ward ihr von Anfang,

       Unter den Menschen sowohl wie unter den ewigen Göttern:

      Jungfräuliches Gekose und frohes Lachen und Arglist,

      Süßes Ergötzen und Wonne und Liebe und schmeichelnde Milde.

      Dies ist die Geburt der Aphrodite, die Theophanie der „Schaumgeborenen”, denn aphros heißt im Griechischen Schaum. Aus bluttriefendem phallischen Fleisch wird Meeresschaum, und aus schaumgekrönter Woge auftaucht wollustatmend Anadyomene, die Ingestalt lockenden Weibtums, Götter wie Menschen erfreuende Frau Wonne, die die Römer mit Venus in eins setzten, so wie ihre Begleiter Eros und Himeros mit Amor und Cupido.

      Eine andere, eine archaischere, gewaltigere Antike führt uns Hesiod vor Augen als die bereits vom Hellenismus, vollends von Ovid gemilderte, ins Spielerische übersetzte Olympierwelt; eine andere Aphrodite als die uns durch die Bilder Botticellis, Tizians, Giorgiones, Raffaels, Tiepolos, Renis, Velasquez’, Poussins und Ingres’ vertraute Schönheitskönigin; eine kosmische Gottheit, die in Anmut und Liebreiz verjüngt übersetzte Gaia, nicht aber das manchmal ein wenig gschamig fröstelnde, manchmal etwas jungmädchenhaft kokette, manchmal sexbombengleich laszive Mannequin, das uns die letzten fünfhundert Jahre abendländischer Malerei so oft beschert haben. Hesiods dem Meer entstiegene Aphrodite heißt auch Urania, „die Himmlische”, nicht weil sie die Patronin unsinnlich vergeistigter, gar frömmelnd jenseitszugewandter Liebe ist, sondern weil sie dem abgeschlagenen Penis des Himmelvaters Uranos entstammt.

      Was spätere Dichter Aphrodite-Venus an Reizendem, Lüsternem und Possenhaftem ausschmückend unterstellt und beigefügt haben, kann sich ein findiger Kopf ausdenken, heiße er nun Honoré d’Urfé, Sir Philip Sidney, Claude Crébillon, Christoph Martin Wieland, Jacques Offenbach oder auch Carl Spitteler. Das aber, was Hesiod schildert, ist im strengsten Sinne des Wortes unerfindlich und eben deshalb unergründlich, unausschöpfbarund unvergeßlich. Eine Szene wie die der Geburt der Aphrodite läßt sich nicht ersinnen. Sie muß in unvordenklicher Frühe — en arché, in principio, in origine — eräugt worden sein. Hesiod hat sie entweder selbst „gesehen” oder bezeugt, was lange vor ihm einem anderen visionär offenbart wurde. Nur ein einziger neuerer Dichter, der halbvergessen ist, hat einmal, ohne Hesiod zu nennen, sich der Theogonie genähert; ich meine Wilhelm Heinse:

      „Und die Liebe ward geboren, der süße Genuß der Naturen füreinander, der schönste, älteste und jüngste der Götter, von Uranien, der glänzenden Jungfrau, deren Zaubergürtel das Weltall in tobendem Entzücken zusammenhält. Und alle lebendigen Geschöpfe erhaschten in diesem Getümmel ihren Anfang; und vermehren sich nach alter Art immer wieder aus einem kleinen neuen Chaos.”

      Dies ist hesiodeisch gedacht, wenngleich mit etwas andern Worten ausgedrückt. Bei Hesiod ist Eros, im Unterschied zu Heinse, nicht der leibliche Sohn der Aphrodite Urania, sondern nur ihr gleichsam an Kindes Statt angenommener Begleiter. Er ist ursprünglicher als die Mutter der Wonne, nicht Uranide, sondern gleichzeitig mit Gaia und Tartaros aus dem „Chaos” hervorgegangen, der erste Lichtstrahl, der wahre „Luzifer” und „Phosphoros”, Lichtbringer und Lichtträger in dunkler Welt, nicht selbst zeugend, sondern Prinzip jeglicher Zeugung, in jeder Umarmung gegenwärtig, fruchtbringender Beschwinger und Bezwinger der Leiber und Seelen.

      Und nun Aphrodites Geburt, ein wahrer Sonnenaufgang nach dem schaurigen Gemetzel in grauser Nacht, von Hesiod besungen mit Worten, die später Sappho von Lesbos aufgreifen, fortspinnen und weitersingen wird. Hesiod stiftet Stichwort, Losung und Tonhöhe. Durch die Jahrhunderte hallt der von ihm angestimmte Gesang, fruchtbar wie die in ihm sich aussagende Genesis. Ein Geschlecht sagt es dem andern, ein Dichter vermittelt Lobpreis und Kunde der Götter dem folgenden. Strophe wechselt mit Antistrophe, Chor mit Chor in psalmodierendem Jubel, so daß ein einziges konzertantes Oratorium die Antike durchbraust, symphonisch geordnet: Gesänge, Gebete und Gesichte in eins, Hymnen, Dithyramben und Enkomien der Lyriker und Tragiker, der Rhapsoden und Kitharöden, der Liturgen und Symposiarchen, der Choreuten und Musageten, antiphonischer Lobpreis der seligen Unsterblichen, jeder Antwort und Echo Hesiods, Wechselgesang mit dem Archäus, der im Anfang anstimmend Leitwort und Parole gab.

      Aphrodites Epiphanie ist kein Ende, sondern neuer Anfang, ekstatische Erneuerung des Ursprungs, Aufbruch zu neuen Zeugungen, Allbefruchtung und Panspermie. Die goldene Kette der Geschlechter wird weiter und weiter in immer neuen Zyklen, in denen auch Götterweltkriege nur gewittrige Zwischenspiele und vorübergehende Zuckungen sind: Aufbruch und Taumel kosmogonischer Orgien, in denen kein Glied nicht trunken ist, Exzesse der Verschwendung und Preisgabe, liebender Krieg, kriegerische Liebe, bacchantische Protuberanzen eines bleibend chaosgebärerischen Weltalls, das nicht fertig und zu Ende ist, sondern in immerwährender Geburt erzittert. Kampf und Katastrophe erweisen sich wie Liebe und Hervorbringung als Ausdruck ein und desselben Weltgesetzes, des Götter wie Menschen bergenden Kosmos, den weder ein Gott noch ein Mensch gemacht hat, der eine einzige allumfassende Genesis ist, welcher sich sämtliche Wesen verdanken.

      Hesiod ist ganz und gar Genealoge, der einen Götter-Gotha erstellt, mit heiliger Pedanterie und feierlichem Lobpreis die Verwandtschaft aller Elemente und Wesen rhythmisch entrollend in einem wahrhaften Carmen saeculare. Ob im Himmel, auf Erden oder in der Unterwelt, ob zu Lande, zu Wasser oder in den Lüften, in allem Lebendigen pulst gleiches Blut. Und es gibt für Hesiod nur Lebendiges. Was Tod, Vernichtung und Untergang zu sein scheint, ist bloß Gestaltwandel, Bezähmung und Neuordnung. Die Kleinfamilie ist nichts als ein kümmerlicher Rest. Einander befehdende Völker sind göttlichentsprungene Geschwister, oft Nachkommen morganatischer Mischungen aus frühen Zeiten, da sich noch Unsterbliche sterblichen Frauen, Kronidentöchter sterblichen Jünglingen gesellten. Unsere Verwandtschaft ist größer als wir wähnen. Der Alltag verbirgt uns die Goldfolie der wahren Ahnentafel. In uns allen strömt königliches Blut, bei dem einen mehr, bei dem andern weniger. Wir alle sind Kinder, Enkel und Abkömmlinge, Kognaten, Angeheiratete und Affiliierte einer matriarchalen Dynastie. Jeder einzelne ist ein blühender Zweig vom Mutterstamm, jede Kleinfamilie bloß eine Filiale des Mutterhauses, des unter dem Namen Gaia firmierenden Großunternehmens für Götterproduktion.

      Hesiods rhapsodische Genealogie entproletarisiert auch noch den Geringsten von uns, sogar das Kind kleiner Leute ist göttlich versippt. Hesiod aristokratisiert den Menschen, indem er ihn nicht als Erzeugnis eines Töpfers eräugt, sondern als fortzeugende Zeugung einer Mutter, als Ausgeburt und Anverwandten der Gynaikokratin Gaia. Wir müssen nur in die Frühe zurückblicken, um zu gewahren, wie sehr wir verwandt sind. Das ist Hesiods Frohbotschaft.

      Den Modernen mögen seine Genealogien und Stammbäume überflüssig weitläufig und ermüdend müßig vorkommen, doch für Hellas stifteten sie ein Gemeinschaftsbewußtsein, wie es Staat und Politik nicht zuwege brachten, sondern nur der begeisterte Dichter.

      Wer Hesiod einmal zu lesen begonnen hat, wird von dessen kosmogonischen Ahnentafelbildern sowenig gelangweilt sein wie ein Ikonenliebhaber von der hieratischen Monotonie der im Grunde nur ein einziges Urbild, immer neu abwandelnd, wiedergebenden Kultgemälde. Hesiods Götternamen sind wie kostbar gefaßte Edelsteine in den Text eingesetzt; das verbindet ihn mit sonst so unterschiedlichen Meistern wie dem Georgier Schota Rustaweli und dem Toskaner Dante Alighieri, die ebenfalls immer wieder perlen- und juwelengleiche Metaphern, Antithesen und Wortfiguren aneinanderreihen. Wie Zettel und Einschlag bilden genealogisch-etymologischer Prunk und epische Erzählung das Gewebe des Göttergedichts.

      Aphrodite ist beileibe kein Ende, sondern nur Auftakt, Vorspiel und Übergang zu neuen hierodulischen


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