Haushaltsnahe Dienstleistungen für Familien. Mareike Bröcheler
Typen von Wohlfahrtsstaaten und Care-Regimen
Schmid (2011) bezeichnet den Wohlfahrtsstaat als „politische Konstruktion“, da der Begriff „die verbindliche Regelung der sozialen Sicherheit durch Staat, Verbände, Betriebe sowie Verwandtschafts- und familiäre Systeme [bezeichnet]. Seine Funktion ist es, gegen die – vom Individuum nicht zu vertretenden – Risiken der modernen Industriegesellschaft, also Alter, Invalidität, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflege, zu schützen und auf diese Weise über den Lebenslauf hinweg ein regelmäßiges Einkommen zu sichern“ (Schmid 2011: 117). In den sozialwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Analysen ist dieses Leitbild jedoch ein wirkungsmächtiges Konstrukt, welches als „empirische Kategorie zur vergleichenden Analyse der Inhalte und Determinanten moderner Staatsaktivitäten“ (Schmid 2011: 118) fungiert.51 Eine weit verbreitete Klassifizierung unterschiedlicher Traditionen von Wohlfahrtsstaaten geht auf Esping-Andersen (1997) zurück, der zwischen drei idealtypischen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen52 in kapitalistischen Gesellschaften unterscheidet (siehe Tabelle 1). Er differenziert diese aufgrund des Umfangs der sozialen Sicherungssysteme (Indikator „De-Kommodifizierung“), Arten der „Stratifizierung“ (Mechanismen der Regulierung sozialer Ungleichheiten) sowie durch das damit verbundene Zusammenwirken von Staat, Privatwirtschaft und Familie zur Übernahme wohlfahrtstaatlicher Aufgaben (vgl. Esping-Andersen 1997; Schmid 2011; Heintze 2013).
Tabelle 1: Typologie kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen
Quelle: Eigene Darstellung nach Schmid 2011 und Kirschner 2015: 181 f.
In konservativen Wohlfahrtstaaten, zu denen auch Deutschland gezählt wird, gibt es ein ausgeprägtes System sozialer Sicherung zur De-Kommodifizierung der Menschen von der Erwerbsarbeit, erbracht durch Sozialversicherungen. Dabei prägen starke soziale Differenzierungen die Versicherungsstrukturen, die am Modell der traditionellen „Normalfamilie“ ebenso wie dem Normalarbeitsverhältnis orientiert sind. Im Dreieck Markt-Staat-Familie kommt der Familie eine besondere Bedeutung und Verantwortung zu, gepaart mit einer deutlichen Feminisierung von Sorgeaufgaben. Das Ernährermodell und ein Streben nach Statuskonservierung sind somit wichtige Pfeiler konservativ geprägter Wohlfahrtsstaatlichkeit. Liberale Wohlfahrtsstaaten betonen hingegen die Verantwortung des Marktes und der Familie. Die Abhängigkeit der Einzelnen vom Markt bringt bei einer geringen Ausprägung sozialer Sicherungssysteme extreme soziale Ungleichheiten hervor. In sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaaten hingegen sind ein Rechtsanspruch auf Sozialleistungen sowie eine am Gleichheitsideal orientierte Politik oberstes Gebot. Für die allgemeinen Risiken des Erwerbslebens (Krankheit, Alter, auch Elternschaft) werden staatlich finanzierte Lohnersatzleistungen vorgehalten, um eine deutliche De-Kommodifizierung vom Erwerbssystem zu erreichen. Dabei gilt es, soziale Ungleichheiten – insbesondere in der Dimension Geschlecht – abzubauen. Sozialdemokratisch geprägte Staaten finden sich in den skandinavischen Ländern53, allen voran in Schweden (vgl. Esping-Andersen 1997; Leitner, Ostner, Schratzenstaller 2004; Schmid 2011; Heintze 2013).
Mit dem Konzept des „Wohlfahrtsmixes“ (Evers, Olk 1996) gesprochen, sind die wohlfahrtsstaalichen Kulturen durch eine jeweils unterschiedliche Gewichtung der Säulen Staat, Markt, Familie und – in diesem Konzept ergänzend – auch die Zivilgesellschaft als vorrangig leistungsbringende Instanzen in den unterschiedlichen Politikbereichen gekennzeichnet. Die Sektoren zeichnen sich jeweils durch die Stärken und Schwächen aus, die den Grad der Verantwortung mitbestimmen. So legen personenbezogenen Care-Aufgaben eine Verantwortung der Familie nahe, da hierin ethische und moralische Vorteile gesehen werden. Weniger personen- und körperbezogene Aufgaben, wie etwa der Arbeitsvermittlung, wird hingegen eine breit aufgestellt Verantwortungsübernahme durch den Staat zugesprochen. Zugleich gibt es immer wieder Aufgaben, die davon profitieren, nicht von einer Säule allein, sondern von einem „Mix“ der unterschiedlichen Säulen übernommen zu werden (vgl. Evers 2018). Für die Bundesrepublik braucht es in den Care-Bereichen weder allein staatliche, marktliche oder familiale Verantwortung, sondern stets einen gut funktionierenden Mix (samt Klärung von Verantwortlichkeiten und Kompetenzen). Dabei werden bei Ergänzung einer Säule durch eine andere stets Synergien erwartet, anstatt von einem Ersatz zu sprechen (vgl. Evers 2018).
Die Rolle und Bedeutung der Säule Familie innerhalb der unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Ordnungssysteme wird von verschiedenen Autorinnen und Autoren besonders hervorgehoben. Wohlfahrtsstaaten unterscheiden sich deutlich im Grad der Familiarisierung („familialism“, Esping-Andersen 1999: 45): Während in familiaristischen Care-Regimen das Gros der (Sorge-)Verantwortung auf den privaten Haushalten bzw. den Familien liegt, haben Staaten mit einem höheren Grad der Defamiliarisierung („de-familialization“, ebd.) diese Verantwortung vor allem an die öffentliche Hand (weniger an den Markt) abgegeben. Sie unterstützen in besonderem Maße die Erwerbsbeteiligung von Frauen und wenden sich dadurch vom Ernährermodell und der damit verbundenen ökonomischen Abhängigkeit der Frauen von ihren erwerbstätigen Partnern ab. Die Reduzierung oder Minimierung der familiär (und damit oft weiblich) verankerten Sorgeverantwortung sollte daher Leitbild für den Aus- und Umbau moderner Wohlfahrtsstaaten sein (vgl. Esping-Andersen 1999). Feministische Diskurse zur vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung fokussieren ebenfalls die Unterscheidung von Familiarisierung und Defamiliarisierung zur Analyse von Care-Regimen insgesamt oder politischen Strategien und Maßnahmen im Einzelnen (vgl. Leitner, Ostner, Schratzenstaller 2004; Ostner 2011; Evers 2018). Heintze (2013) erfasst dieses Phänomen durch die Unterscheidung in familienbasierte und servicebasierte Care-Systeme. Kennzeichnend für familienbasierte bzw. familiaristische Systeme – wie bisher in Deutschland – sind das Ernährermodell als Leitbild (siehe Kapitel 3.2.2), eine niedrige Frauenerwerbstätigkeit, statuskonservierende Mechanismen innerhalb der sozialen Sicherungssysteme, eine große Bedeutung familiärer Betreuungs- und Pflegearrangements (Subsidiaritätsprinzip) bei einer geringen Professionalisierung von personenbezogenen Dienstleistungen und niedrige öffentliche Ausgaben für derartige Leistungen (vgl. Esping-Andersen 1996; Leitner, Ostner, Schratzenstaller 2004; Heintze 2013). Heintze betont in diesem Kanon vor allem den letztgenannten Indikator der öffentlichen Ausgaben für Leistungen sozialer Dienste. Die Strategie geringer öffentlicher Investitionen in den tertiären Sektor (in Beschäftigung ebenso wie Infrastruktur) wird daher als ,,Lowroad“ bezeichnet. Der Weg über eine „Highroad“54 zeichnet sich im Gegenzug durch staatliche Investitionen in gute (verfügbare und zugängliche) Infrastruktur eines entsprechenden Dienstleistungsangebotes, in hohe Dienstleistungsqualität und in professionalisierte Beschäftigung aus, wie es bereits in einigen skandinavischen Ländern politische Praxis ist. Die Art der Dienstleistungspolitik ist dabei nicht immer, aber häufig abhängig von konservativen, liberalen oder sozialdemokratischen Prägungen der Wohlfahrtsstaatssysteme (vgl. Heintze 2013; 2015).
3.2.2 Wohlfahrtsstaatliche Leitbilder für die Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit
Die feministische Kritik an der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung macht deutlich, dass die Betrachtung allein der Verantwortungsteilung zwischen Staat, Markt und Familien eine wesentliche Dimension der Organisation von Sorgearbeit und damit eines Teils von Care-Regimen verdeckt: Die wohlfahrtsstaatliche Säule der Familie ist maßgeblich durch die industriell-kapitalistische, geschlechtsdifferenzierte Arbeitsorganisation durch eine männlich kodierte Erwerbsarbeitssphäre und weiblich besetzte Sphäre der Sorgearbeit bedingt. Ebenso beeinflusst die wohlfahrtsstaatliche Tradition Politik in der Weise, dass im Fall der konservativ und familiaristisch geprägten Bundesrepublik Deutschland lange Zeit Maßnahmen zum Statuserhalt oder zur Familiarisierung dominierten. Neuere gesetzliche Regelungen oder familienpolitische Leistungen deuten eine stärkere Defamiliarisierung und damit einen Wandel der wohlfahrtsstaatlichen Leitbilder55 an, der von Bemühungen um eine geschlechtsneutrale statt androzentrische