Zeit zählt. Andrew Abbott
PositionenSozialforschung weiter denken
In der Reihe Positionen erscheinen klassische und neue Texte, die sich damit auseinandersetzen, was wegweisende Sozialforschung methodisch und theoretisch ausmacht, und die aufzeigen, was sie leisten kann.
Sozialforschung weiter denken heißt, mit Positionen zu experimentieren, die inspirieren und irritieren, weil sie die theoretischen und methodischen Konventionen sozialwissenschaftlichen Forschens hinterfragen, überwinden oder neu arrangieren. Die ausgewählten Werke fordern allesamt heraus; sie geben Orientierung und enthalten überraschende Einsichten; sie machen Deutungsangebote und ermuntern zu Kritik.
Ziel der Reihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist es, methodisch und theoretisch kreativen Impulsen mehr Gewicht in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen zu verleihen. Dazu versammelt Positionen sowohl Originaltexte als auch Übersetzungen.
ANDREW
ABBOTT
ZEIT ZÄHLT
Grundzüge einer
prozessualen Soziologie
Aus dem Englischen von Michael Adrian
Mit einer Einführung von Thomas Hoebel,
Wolfgang Knöbl und Aaron Sahr
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
© der E-Book-Ausgabe 2020 by Hamburger Edition
eISBN 978-3-86854-981-2
© der deutschen Ausgabe 2020 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-348-3
Abdrucknachweise Seite 327
We thank Andrew Abbott for his kind cooperation in the publication of this book.
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
INHALT
THOMAS HOEBEL | WOLFGANG KNÖBL | AARON SAHR
Reputation und Randständigkeit
Andrew Abbott und die Suche nach der prozessualen Soziologie
ANDREW ABBOTT
1Die Historizität von Individuen
2Über die allgemeine lineare Realität hinausgehen
Für ein emotionales Erfassen sozialer Momente
6Soziale Ordnung und sozialer Prozess
EpilogFür eine humanistische Soziologie
Reputation und Randständigkeit
Andrew Abbott und die Suche nach der prozessualen Soziologie
»Man kann […] eine grundlegende Veränderung nicht als gelegentliches Resultat einer kontinuierlichen Stabilität erklären. Somit kann es keine wahren ›Perioden‹ geben, und wir müssen davon ausgehen, dass die soziale Welt in erster Linie eine gegenwärtige Welt und der Wandel ihr natürlicher Zustand ist. Die Kontinuität der sozialen Dinge von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft kann nicht vorausgesetzt werden. Sie ist eine Leistung, keine Tatsache – die Erschaffung einer bestimmten Art der Entwicklungslinie von Ereignissen.«1
Die Soziologie hat ein problematisches Verhältnis zur Prozessualität ihrer Gegenstände. Denn erstens fällt es ihr nicht gerade leicht, volatile Verhältnisse und Phasen analytisch zu durchdringen. Ihre Stärke liegt eher darin, stabile Zustände und Entitäten zu untersuchen und auf Begriffe zu bringen. Sprechen Sozialwissenschaftlerinnen2 von »Staat«, von »Kapitalismus«, von »Organisationen«, »Klassen« oder von »Familie«, so meinen sie damit zwar in der Regel historisch gewordene und sich wandelnde Gebilde – aber doch eben Gebilde, mehr oder weniger »feste« Phänomene, die sich als solche erfassen und in ihrem Verhältnis zueinander definieren lassen.3 Zweitens ist offensichtlich, dass noch stets eine gewisse Spannung bestand zwischen den Theoretisierungen sozialer Gebilde sowie ihrer Relationen zueinander einerseits und diversen prominenten Begriffen andererseits, die sich auf langfristige Transformationen von Sozialität beziehen, darunter »Modernisierung«, »Rationalisierung«, »Differenzierung« oder »Individualisierung«. Es handelt sich hier insofern um »gefährliche Prozessbegriffe«4, als sie von Beginn an mit einem Bündel empirischer und konzeptioneller Fragen konfrontiert waren, etwa ob und inwiefern die betreffenden Transformationen das Gebilde, in dem sie ihren Ausgang nehmen, nicht letztlich auflösen und dadurch ihre Konturen verlieren, ob und inwiefern es sich nur um gedankliche Abstraktionen oder um reale Vorgänge gesellschaftlicher Makrodetermination handelt und ob und inwiefern die Begriffe eher deskriptiv oder eher normativ angelegt sind. Paradoxerweise sind diese Begriffe bis heute deshalb so gegenwärtig, weil sich praktisch jede neue Generation von Forschenden kritisch mit ihnen auseinandersetzt.
Die üblichen Prozessbegriffe zählen also vornehmlich aufgrund ihrer Problematisierung zum soziologischen Kanon, nicht aufgrund ihrer Affirmation. Das ist keineswegs unproduktiv. Die stete Unzufriedenheit mit Bewegungsbegriffen mündet regelmäßig in Diskussionen, die mal enger, mal weiter die Frage der Prozessualität des Sozialen adressieren – zumindest in der deutschsprachigen Forschung, auf die wir uns hier zunächst beschränken.5
Die immer wieder aufflammenden Diskussionen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Soziologie erfolgreicher darin ist, den Prozessbegriff zu problematisieren, als positiv zu bestimmen, was er bezeichnen soll und leisten kann.6 Kein Wunder, dass »Prozess« trotz seiner Allgegenwart nicht einmal ansatzweise das Maß an Aufmerksamkeit in einschlägigen Selbstverständigungsschriften findet, wie es bei anderen Fundamentalkonzepten wie »Institution«, »Struktur« oder »Handlung« der Fall ist.7 So findet sich im Lexikon Soziologie und Sozialtheorie,8 das im Untertitel immerhin Hundert Grundbegriffe verspricht, erst gar kein Eintrag zu »Prozessen«,