Zeit zählt. Andrew Abbott
Auch im Wörterbuch der Soziologie, in den Soziologischen Stichworten und dem Kompendium der Soziologie finden sich keine nennenswerten Ausführungen.10
Um es abzukürzen: Die Liste der Fehlanzeigen ließe sich problemlos verlängern. Der Punkt sollte jedoch deutlich geworden sein. Obwohl der Prozessbegriff in der Regel als so bedeutsam anerkannt wird, dass auf ihn kaum verzichtet werden kann, ist die Bereitschaft in der Soziologie, sich mit diesem Begriff näher auseinanderzusetzen oder gar die grundlegende Frage nach der prinzipiellen Prozesshaftigkeit des Sozialen zu stellen, eher gering. Sie war hier sozialtheoretisch schon einmal weiter, war doch die Prozesshaftigkeit menschlicher Vergesellschaftung eine zentrale Prämisse der sogenannten Chicagoer Schule der Soziologie.11
Es gibt gegenwärtig nur einige wenige Ausnahmen von dieser weitgehenden soziologischen »Prozessignoranz«, aber es gibt sie. Eine der prominentesten Ausnahmen ist der Chicagoer Soziologe Andrew Abbott, den wir in diesem Band mit einer Auswahl zentraler Aufsätze einem deutschsprachigen Publikum vorstellen möchten.
Abbott, Jahrgang 1948 und seit 1991 Professor für Soziologie an der University of Chicago, ist zeit seines Forscherlebens auf der Suche nach einer prozessualen Soziologie. Das hat ihm in Nordamerika, seit einigen Jahren verstärkt auch in Frankreich erhebliche Reputation eingebracht, während die Rezeption seiner Arbeiten in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften noch recht verhalten ist. Dabei ist er mit seiner unentwegten Suche ohne Zweifel eine der prägenden Figuren der aktuellen US-amerikanischen Soziologie, was sich auch daran zeigt, dass er eine enorm lange Zeit, nämlich zwischen 2000 und 2016, als Herausgeber des prestigeträchtigen American Journal of Sociology wirkte. Gleichzeitig ist er – eigentümlicherweise – bis heute in disziplinärer Hinsicht randständig geblieben, ist er weder schulbildend noch debattenprägend geworden, auch wenn er keiner Kontroverse ausgewichen ist. Reputation und Randständigkeit, eine auf den ersten Blick widersprüchliche Charakterisierung seiner Stellung in der internationalen Soziologie, ist dabei – wie zu zeigen sein wird – die Konsequenz seiner Suche nach einer genuin temporal angelegten Sozialtheorie.
Wer sich mit den Arbeiten Abbotts befasst, kommt nicht umhin, sich gleichzeitig damit auseinanderzusetzen, wie sich die Soziologie als Disziplin entwickelt hat. Das liegt zum einen daran, dass Abbott die Soziologie selbst als einen empirischen Untersuchungsgegenstand behandelt, dem er sich regelmäßig widmet, um nicht nur wissenschaftssoziologische, sondern auch sozialtheoretische Argumente voranzutreiben. Zum anderen ist Abbott über seine gesamte Forscherbiografie hinweg ein Suchender, wobei er immer wieder die Soziologie als Ausgangs- und Bezugspunkt nimmt. Dabei lassen sich mindestens drei Dimensionen dieser Vorgehensweise unterscheiden. Erstens, so ließe sich in lockerer Anlehnung an Marcel Proust formulieren (ohne dass Abbott diesen Bezug allerdings selbst herstellt), ist er auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Es geht ihm darum, die Temporalität des Sozialen als zentralen Aspekt sozialwissenschaftlicher Methodologie und soziologischer Theoriebildung zu verankern. Die Soziologie hat diesen Aspekt in den vergangenen Jahren – wie einleitend skizziert – zwar nicht komplett verloren. Sie hat ihn, mit einigen wenigen Ausnahmen, über die wir später noch sprechen werden, allerdings weitgehend vernachlässigt.
Zweitens zielt Abbott auf sozialtheoretische Anschlussfähigkeit ab. Er findet eine Disziplin vor, in der seine Argumente zunächst kaum Gehör finden, da sie für gewöhnlich auf Basis grundlegend divergierender Prämissen verfährt. Das macht die Aufgabe, ihn und einen Band mit Aufsätzen von ihm vorzustellen, nicht gerade leicht, hat man doch einen Autor zu präsentieren, der einerseits eine einflussreiche und auch mächtige Figur in der internationalen Soziologie ist, dessen Werk aber andererseits aufgrund seiner idiosynkratischen Positionen, seiner Begriffsbildung und seines Argumentationsstils durchaus immer wieder auf Rezeptionsschwierigkeiten und Irritationen gestoßen ist. Das gilt insbesondere für den deutschen Sprachraum, in dem Abbott – auch wenn es vereinzelte Übersetzungen gibt12 – im Unterschied zur wesentlich breiteren Rezeption in Frankreich oder Spanien eher eine unbekannte Figur geblieben ist.
Drittens schließlich ist, was zunächst überraschen mag, Abbott ständig damit beschäftigt, eigene Positionen zu revidieren. Er arbeitet fortlaufend daran, seine bisherigen Prämissen, Konzepte und Standpunkte zu überdenken, zu modifizieren oder auch fallen zu lassen, wie er selbst immer wieder sehr eindrücklich einräumt, vor allem in den Einleitungen zu seinen beiden Aufsatzbänden, Time Matters aus dem Jahr 2001 und Processual Sociology von 2016. Aus beiden Bänden stammen auch die hier vorgelegten Übersetzungen. Es handelt sich um Schlüsseltexte, die treffend abbilden, wie die Suchbewegungen nach der verlorenen Zeit (Abschnitte II und IV), nach sozialtheoretischer Anschlussfähigkeit (III) und nach der nächsten Revision eigener Standpunkte (V) letztlich zu einer Position führten, die Abbott in ein interessantes Verhältnis zu gegenwärtigen Debatten in der Soziologie (VI) setzt.
IIAuf der Suche nach der verlorenen Zeit
Das Œuvre Abbotts hat eine enorme Bandbreite. Er hat sich in zahlreichen Forschungsfeldern engagiert, von der Soziologie der Professionen über die Geschichte der Soziologie bis hin zur Wissenssoziologie und Sozialtheorie. Seine Argumente sind dabei oft auf Widerstände, nicht selten aber auch auf verständnisloses Achselzucken gestoßen – das ist zum Teil bis heute noch so.13 Eine Erklärung liefert der Blick auf die Frühphase seines Schaffens, die 1980er Jahre, auch wenn man sich dadurch – hiervon wird noch die Rede sein – nicht zur Annahme verleiten lassen sollte, durch Abbotts Werkbiografie ließe sich problemlos ein roter Faden ziehen.
Einigen Spezialistinnen dürfte Abbott, der in den späten 1960ern und frühen 1970ern in Harvard Geschichte und Literaturwissenschaft studiert hatte und daraufhin Graduate Student im Department of Sociology der University of Chicago geworden war, zunächst durch zwei fulminante Aufsätze bekannt geworden sein, die in den frühen 1980er Jahren in einem Methodenjournal der US-amerikanischen Historikerzunft erschienen waren: Sequences of Social Events: Concepts and Methods for the Analysis of Order in Social Processes (1983) und Event Sequence and Event Duration: Colligation and Measurement (1984).14 Schon die sehr technisch klingenden Titel der beiden Aufsätze machen auf eine Problemstellung aufmerksam, die Abbott seither beschäftigt, nämlich die Analyse sozialer Prozesse und die Theoretisierung der damit einhergehenden Grundsatzfragen der Sozialwissenschaften.
Insbesondere dem 1983er-Aufsatz ist Abbotts literaturwissenschaftliche Ausbildung anzumerken, beschäftigt sich Sequences of Social Events doch schwerpunktmäßig – und mithilfe strukturalistischer Erzähltheorien – mit der Frage einer narrativen Ordnung des Sozialen, also wie erzählerische Mittel soziale und historische Ereignisse in eine bestimmte Reihung bringen und welche sozialtheoretischen Prämissen dabei mehr oder weniger stillschweigend einfließen. Das hier analysierte Thema ist natürlich nicht nur für die Literatur- oder die Geschichtswissenschaft von zentraler Bedeutung, sondern ebenso für die Soziologie – obwohl bis dato wenig diskutiert. Auch sie thematisiert ja den ständigen Wechsel zwischen stabilen Zuständen einerseits und sozialen Wandlungsformen andererseits, wobei freilich nur selten explizit geklärt wird, wie genau die unter die bekannten Prozessrubriken gefassten Ereignisse miteinander zusammenhängen oder verkettet sind.
Abbott macht sich im genannten Aufsatz dagegen in systematischer Absicht auf die Suche nach den divergierenden theoretischen Vorstellungen von Ereignisordnungen, die in der Soziologie unzweifelhaft vorhanden sind. Er diskutiert dann gleichermaßen kontinuierliche Modelle, die einen schleichenden Wandlungsprozess unterstellen (darunter historistische Erklärungen oder Evolutionssequenzen), wie diskontinuierliche Ansätze, die Sozialität in prozessualer Hinsicht mit Verweis auf ein wiederkehrendes Auftreten massiver Brüche des Gewohnten charakterisieren.15 Solche Sequenzmodelle, zu denen die vielfach verwendeten »Lebenszyklen« oder auch »Karrieren« zählen, sind jedoch, wie Abbott feststellt, aufgrund ihrer Simplizität zumeist mit erheblichen Problemen konfrontiert, insofern sie kaum je die tatsächliche Volatilität der identifizierten Prozesse und/oder das Zusammenstoßen je unterschiedlicher Prozesse und deren differierende Zeitlichkeit und Länge in Rechnung stellen.16 Die Konsequenz ist, dass es dann nicht zufällig, sondern theorieimmanent