Zeit zählt. Andrew Abbott
zu einer Strömung geführt, die unter dem Namen »pragmatische Soziologie« firmiert und der sich u.a. Luc Boltanski und Laurent Thevénot, Bénédicte Zimmerman oder Danny Trom, Michel Callon oder Bruno Latour zurechnen – oder zugerechnet werden. So unterschiedlich sie im Einzelnen auch argumentieren mochten, waren sie sich doch darüber einig, dass man, erstens, zur Vermittlung zwischen der Situation der Handelnden und sozialen Strukturen zunächst einmal erstere detailliert analysieren müsse, dass es, zweitens, gelte, einen naiven soziologischen Objektivismus zu brechen (weshalb sie auch die Nähe zu Historikerinnen suchten), und dass man, drittens, weder die Kohärenz des Ich unterstellen noch die Fluidität von Machtbeziehungen ignorieren dürfe.61 Es ist deshalb nicht überraschend, dass sich dieser Autorenkreis dafür zu interessieren begann, was Abbott konzeptuell anbietet. Es entstand ein Kontext, in dem ab Mitte der 2000er Jahre das Werk Abbotts in Frankreich zunehmend rezipiert wurde – wobei diese Rezeption sich mit zwei weiteren theoretischen Trends verknüpft. Seit den 1990er Jahren gibt es auch in der französischen Geschichtswissenschaft, hier vor allem in der Mikrohistorie,62 verstärkte Reflexionen auf das Verhältnis von Mikro und Makro und darüber dann auch auf Fragen von Kausalität und Kontingenz.63 Zusätzlich versuchen einige Politikwissenschaftler wie etwa Michel Dobry,64 herkömmliche Linearitätsannahmen und teleologische Unterstellungen, die sich in vielen sozialwissenschaftlichen Erklärungsdesigns finden, zu unterlaufen und theoretische Gegenentwürfe zu formulieren. Abbott gehört damit zwar noch immer keinem Klub an, ist aber auch nicht (mehr) allein auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit.
IVWeiter auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Spätestens seit den 1990er Jahren zeichnet sich ab, dass Abbott aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit Ereignissen und Sequenzen auf eine Art Soziologie hinsteuert, die sich von herkömmlichen sozialtheoretischen Konventionen unterscheidet. Er legt seither die Grundzüge eines Forschungsprogramms vor, bei dem es ihm nicht in erster Linie darum geht, soziale Prozesse im Sinne von besonderen oder irgendwie außergewöhnlichen Vorkommnissen zu untersuchen. Er fragt vielmehr danach, wie eine Soziologie aussehen muss, die mit guten Gründen annimmt, dass sie es mit einer prinzipiell flüchtigen Realität zu tun hat, mit einer Realität, die prozesshaft organisiert ist und in der stabile Zustände eher als erklärungsbedürftige Ausnahmen zu gelten haben.
In diesem Zusammenhang stellt sich Abbott zunehmend auch ontologische Fragen oder zumindest solche, die auf ontologische Probleme verweisen. Neben seiner kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Gründerfiguren des Amerikanischen Pragmatismus und des Symbolischen Interaktionismus beginnt er in dieser Zeit, sich mit Philosophen wie Henri Bergson und insbesondere mit Alfred North Whitehead zu beschäftigen.65 Dadurch gewinnt er wiederum grundlegende Einsichten, die mit denjenigen, wie sie in der Mainstream-Soziologie vorherrschen, kaum in Einklang zu bringen sind.66 In seinem 2016 veröffentlichten Aufsatz La Conception de l’ordre dans la sociologie processuelle67 ordnet Abbott seine Theoriebaustrategie, die sich in den 1990er Jahren entwickelt, aber rückblickend in eine bestimmte, sehr viel bekanntere Tradition des sozialen und politischen Denkens ein. Dafür unterscheidet er grob zwischen historischen Denkern und Philosophen wie Machiavelli, Vico und Montesquieu auf der einen Seite – und eher ahistorisch argumentierenden Ordnungsdenkern wie Hobbes oder Rousseau auf der anderen. Folgt man Abbott, ist den drei erstgenannten Autoren ein prozessualer Blick zumindest nicht fremd – auf eine Weise, die ihm, Abbott, sehr naheliegt. Es gibt vier zentrale Aspekte, die dieses Prozessdenken auszeichnen.
1)Ordnungsdenker verweigern sich zwar nicht der Idee des sozialen Wandels, sie unterstellen aber, dass Ordnungen zu Konflikten führen, diese Ordnungen damit aufgelöst oder zerstört werden, bis dann eine neue Ordnung eintritt. Die zentrale Prämisse dieses Denkens ist also ein Gleichgewichtsmodell, das vom Normalfall der Ordnung ausgeht und in dem der konfliktbedingte Wandel deshalb die Ausnahme darstellt. Abbott hingegen will mit dieser Vorstellung brechen und behauptet deshalb, dass die Realität per se eine Prozesshafte sei.68 Für die Sozialtheoretikerin gilt es deshalb zu klären, wie aus Prozessen vermeintlich stabile Zustände werden.
2)Damit eng verknüpft basieren Ordnungsmodelle auf der theoretisch nicht zu rechtfertigenden Vorstellung, dass das Telos des sozialen Wandels immer ein irgendwie stabiler Zustand sei, der darüber hinaus in normativer Hinsicht als ein wünschenswerter oder bevorzugter betrachtet werden müsse. Von diesen normativ unterlegten Teleologien habe sich eine Prozesssoziologie dagegen frei zu machen, weil sich nur so ein vorurteilsloser analytischer Blick auf das Soziale gewinnen lasse.
3)Ordnungsmodelle haben Abbott zufolge zudem die negative Eigenschaft, dass sie nur selten die Frage stellten, für wen diese Ordnung gut bzw. vorteilhaft ist oder sein soll. Indem diese Frage zumeist im Hintergrund verbleibe, werde gleichzeitig auch übersehen, dass – so Abbott – Ordnung immer wieder neu und immer wieder anders produziert wird, ein Aspekt, der sich nur dann erschließt, wenn man konsequent eine prozessuale Herangehensweise verfolgt.69
4)Ordnungsdenken ignoriert – im Unterschied zum Prozessdenken – die notwendige Einsicht, dass Ordnung sehr Verschiedenes bedeuten kann, dass die Ordnung sozialer Gruppen strukturell und temporal in der Regel ganz anders verfasst und reguliert ist als etwa diejenige der individuellen Biografie und dass beide nicht miteinander harmonisieren müssen. Deshalb ist die ordnungstheoretische Vorstellung einer zwanglosen Einbettung des Individuums in eine größere soziale Einheit höchst problematisch.70
Die vier genannten Aspekte umreißen ein Forschungsprogramm, das Abbott selbst zuerst und gleichzeitig am schlagendsten – gerade im Hinblick auf ihre kontraintuitiven Momente – in dem 1995 erschienenen Aufsatz Things of Boundaries umsetzt.71 Hier heißt es zunächst:
It is easier to explain stasis as an emergent phenomenon in a fundamentally changing universe than vice versa. Social theories that presume given, fixed entities – rational choice being the obvious current example – always fall apart over the problem of explaining change in those entities, a problem rational choice handles by ultimately falling back on biological individuals, whom it presumes to have a static, given character. But it is very nearly as difficult to account, in a processual ontology, for the plain fact that much of the social world stays the same much of the time. Here, too, is the problem of entities and boundaries.«72
Um das Problem fragiler Einheiten und Grenzziehungen zu bearbeiten, gilt es – so Abbott – nicht, danach zu fragen, was eigentlich die Grenze von Phänomenen oder Dingen ist, das wäre »the boundary of things«. Es ist vielmehr sinnvoll, die Fragerichtung umzudrehen, sich also damit zu befassen, was Grenzen eigentlich sind (die »things of boundaries«), weil nämlich gilt: »Social entities come into existence when social actors tie social boundaries together in certain ways. Boundaries come first, then entities.«73 Erst aus Grenzziehungen, die Akteure vornehmen, ergeben sich – unter Umständen, mal erfolgreich, mal weniger erfolgreich – Entitäten.74
Es ist dann zum einen die Aufgabe einer prozessualen Soziologie, sich damit auseinanderzusetzen, wie sich diese Schaffung von Einheit ereignet (wobei, um es nochmals zu betonen, auch die Einheit und Kontinuität von individuellen Personen für Abbott keine gegebene Tatsache, sondern eine empirisch zu untersuchende Frage ist).75 Zum anderen besteht ihre Aufgabe darin, zu untersuchen, wie diese Ereignisse im Sinne von Sequenzen miteinander verkettet sind und wie sich diese Verkettung erzählen lässt.76 Abbott argumentiert hier in Übereinstimmung mit Positionen aus der Prozessphilosophie, die sich in den Arbeiten ihrer Vertreterinnen jeweils deutlich unterscheiden mögen, die aber doch eine wesentliche Prämisse teilen:
»In a dynamic world, things cannot do without processes. Since substantial things change, their nature must encompass some impetus to internal development. In a dynamic world, processes are more fundamental than things. Since substantial things emerge in and from the world’s course of changes, processes have priority over things.«77
Abbott will seine Position aber – und dies ist zu betonen – nicht als eine bloß metaphysische (oder gar nur: sozialkonstruktivistische)