Zeit zählt. Andrew Abbott
sprechen – und theoretische Ignoranz haben jedoch ihren Preis. Zeitlich gesehen arbeitet er zwar kontinuierlich an seinem Ziel, The Social Process zu schreiben, kommt ihm aber nur zögerlich näher. Er steuert im Grunde immer wieder auf eine systematische Theorie zu, ist aber zu sehr mit Revisionen befasst, als dass diese Theorie zumindest annäherungsweise eine präsentable und diskutierbare Gestalt annehmen könnte. Es klingt einleuchtend, wenn Richard Swedberg zu bedenken gibt, dass Abbotts Methode seiner eigenen Theorie im Weg steht, seine Suche nach der nächsten Revision letztlich eine systematische Theorie verunmöglicht.146 Gleichzeitig – und das möchten wir betonen – müsste man wohl auf zahlreiche fruchtbare Argumente verzichten, schriebe Abbott »einfach nur« an einer prozessualen Theorie, ohne dass seine Arbeitsweise dabei reflexiv mit den ontologischen Prämissen dieses Theoretisierens verknüpft wäre. Wie auch immer, sachlich hat Abbott ohne Zweifel den Preis einer eigentümlichen theoretischen Genügsamkeit zu zahlen. Er kann mit seinem Konvolut an Texten bis heute letztlich nur eine »Perspektive«147 prozessualer Soziologie anbieten, keine Theorie. Da hilft auch keine Schönfärberei der Art, dass er geltend macht, pointierte Essays seien »in einer Welt kürzer werdender Aufmerksamkeitsspannen« manchmal wirkungsvoller als systematische Gesamtdarstellungen.148 Schließlich brauchen wissenschaftliche Studien theoretisches Rüstzeug, das zumindest »fest« genug für Vergleiche und Reproduktion von Forschungsergebnissen ist – was eine schulbildende Rezeption Abbotts wohl erschwert, wenn nicht gar verhindert hat. Damit eng verbunden sticht ins Auge, wie wenig Abbott sich zudem darum kümmert, seine Suche nach einer genuin prozessualen Soziologie mit anderen Ansätzen ins Gespräch zu bringen, die sich ebenfalls mit der Prozessualität des Sozialen befassen.149 Es geht hier ja nicht um »ein singuläres Abbott-Problem«, wie Athanasios Karafillidis schreibt,150 sondern um Problemstellungen von erheblicher sozialtheoretischer und methodologischer Tragweite.151 Sozial betrachtet zahlt Abbott – aus guten Gründen! – den Preis disziplinärer Randständigkeit, zumindest dann, wenn man – wie Abbott – behauptet, dass Disziplinen »Klubs der einsamen Herzen« sind. Er bezeichnet damit Zirkel von Wissenschaftlerinnen, die sich zusammenfinden, um in einer Welt, die einen Überfluss an Dingen kennt, die man wissen müsste, die erforderliche Lektüre auf ein zu bewältigendes Maß zu reduzieren.152 Abbott entzieht sich dieser Kanonisierung eben immer wieder aufs Neue, kann aber gerade dadurch Einsichten vermitteln, die fast immer innovativ und höchst überraschend sind.
Ist Abbott durch seine Arbeitsweise ein Soziologe, der »nicht klassifizierbar« ist, wie Didier Demazière und Morgan Jouvenet vermuten?153 »Ja«, lautet die Antwort, wenn es darum geht, Abbott mit den üblichen Etiketten zu versehen, mit denen soziologische Klubzugehörigkeiten angezeigt werden – sei es »Symbolischer Interaktionismus«, »Kultursoziologie« oder »Systemtheorie«. »Nein«, ließe sich einwenden, wenn man seine ontologischen und epistemologischen Prämissen und seine Arbeitsweise betrachtet. Dann könnte man ihn als konzeptuellen Agent Provocateur bezeichnen, dessen Agency sich kontinuierlich wandelt – um es etwas positiver zu formulieren als Alan Sica, der Abbott als einen »red-cheeked New England boarding school youth propelled by a ravenous brain, charming shyness« vorstellt, der einen fast schon als Geheimsprache anmuteten Zungenschlag pflegt und damit seine Leserinnen aus ihrer theoretischen und methodischen Komfortzone locken möchte.154 Wie auch immer, was an dieser Stelle zählt, ist, dass Abbotts Suche nach einer prozessualen Soziologie längst noch nicht zu Ende ist. Seinen Weg in die Soziologie hat er jedoch gefunden.
VIZeit zählt: Abbott in der Soziologie
Mit seiner programmatischen Ansage »time matters« für die soziologische Theorie – »Zeit(lichkeit) zählt« – bietet Abbott eine Fülle an Anknüpfungspunkten, um die bestehenden und derzeit auflebenden Debatten um die Zeitlichkeit des Sozialen voranzubringen. Mit seinen Bemühungen, besser zu verstehen, was es bedeutet, von einer Aufeinanderfolge von Sequenzen zu sprechen, und Antworten auf die Frage zu finden, welche Relevanz diese Sequenzialität für die Sozialtheorie hat, greift Abbotts prozesssoziologischer Theorieansatz in ein zwar nicht brachliegendes, aber doch erstaunlich unterentwickeltes semantisches Feld ein. Dass wir Abbotts Programm in diesem Band als eine Kollektion vor allem prozesstheoretischer Interventionen präsentieren, ruft dabei zwei Kernfragen auf: zum einen das Problem der angemessenen Theoretisierung der Zeitlichkeit sozialer Realität, zum anderen die Frage nach der Relevanz von Zeit für ein Verständnis sozialer Wirklichkeit.
Aktuell gibt es maßgeblich zwei sozialtheoretische Strömungen, für die Zeit ebenfalls zählt: einerseits die Entwürfe einer lebensphilosophischen bzw. neovitalistischen Sozialtheorie, andererseits die Praxistheorie in der Variante, die in erster Linie von Theodore Schatzki geprägt ist.155 In beiden Strömungen findet sich die Annahme einer fundamentalen Zeitlichkeit des Sozialen. Während sich der Neovitalismus jedoch dem Abbott’schen Paradigma der Veränderung anschließt, bringt die Praxistheorie mit dem Paradigma der Wiederholung eine (vermeintlich andere) zirkuläre Vorstellung fundamentaler Zeitlichkeit ins Spiel. Zusammen bilden sie eine in sich kontroverse Ökologie sozialtheoretischen Denkens. Ein zumindest kursorischer Vergleich ermöglicht es, Abbotts gegenwärtiges Einflusspotenzial – seinen Ort in der Soziologie – wenigstens ansatzweise zu skizzieren.
Das Paradigma der Veränderung hat einen vergleichbaren Ausgangspunkt wie Abbott, der ja wie gesehen in radikaler Manier die Prozessualität aller Dinge behauptet.156 Die derzeit diskutierten neovitalistischen Ansätze kritisieren, angelehnt an Henri Bergson oder Georg Simmel, die soziologische Tradition ebenfalls für ihre »verräumlichte« Imagination sozialer Realität.157 Sie problematisieren eine Art grundlegende Strukturierung soziologischer Wahrnehmung, nach der sich Entitäten – wie oben schon ausgeführt – in festen Grenzen und wie auf einem Feld verteilt gegenüberstehen.158
Nun geht es weder Abbott noch den Neovitalisten darum, dieser Raumontologie sozialer Realität schlicht eine zeitliche Dimension hinzuzufügen, um sich soziale Entitäten fortan als auch in der Zeit ausgedehnte Dinge vorzustellen. Ihr Anliegen ist es also nicht allein, soziale Entitäten grob zu historisieren, also schlicht anzuerkennen, dass sie nicht schon immer und genauso existiert haben, wie wir sie in der Gegenwart vorfinden. Stattdessen wollen Neovitalistinnen »all jene soziologischen Theorien […] kritisieren, die den sozialen Wandel als sekundär gegenüber einem gesellschaftlichen Sein konzipieren«.159 Dabei geht es um wesentlich mehr als die bloße Imagination einer sozialen Raumzeit. Es geht um ein neues Paradigma: Heike Delitz zufolge ist »das permanente Anders-Werden« die basale Eigenschaft sozialer Realität. Von ihr stammt der Vorschlag, in Abgrenzung zum Raumparadigma vom Paradigma »der permanenten Veränderung« zu sprechen. Dadurch wird dann folgerichtig »das soziologische Bezugsproblem neu formuliert«. Anstatt Ordnung zu erklären, geht es darum, das Anders-Werden »qualitativ« zu verfolgen.160
Die soziologische Beobachtung beginnt in dieser Perspektive mit der ontologischen Annahme, dass soziale Phänomene aus einem ständigen Werden bestehen.161 Nach Vorstellung der Neovitalisten entwickelt sich dadurch ein anderer Blick auf das Soziale, als es innerhalb einer Raumimagination möglich wäre: »Die Zeit ist kein teilbares und homogenes Medium, vergleichbar dem Raum. Die temporale Dimension des Wirklichen ist vielmehr eine unteilbare, kontinuierliche und unvorhersehbare sowie nicht revidierbare Aufeinanderfolge.«162 Ebenso wie – und auch im (vorsichtigen) Anschluss an – Abbott arbeitet sich die Lebenssoziologie an der Kritik eines Paradigmas ab, das zu ordnungsfixiert ist und vornehmlich ergründet, » was etwas war und was es wird«.163 So bleibt das Werden jedoch im Grunde abgedunkelt, da es hier von Anfangs- und Endzuständen her gedacht wird, nicht als Verlauf.
Das Programm der neuen Lebenssoziologie ist ambitioniert, bescheiden sind freilich noch die theoretische Detailarbeit und empirischen Einsichten.164 Ein stärkeres Gespräch mit dem Œuvre Abbotts könnte hier der Verfeinerung und Weiterentwicklung, womöglich auch der Vermeidung von Irrwegen dienen.165 Obwohl Abbott darauf insistiert, dass alles Veränderung ist, versucht er doch immer wieder, das Werden der Dinge mit einem Blick auf Ordnungen der Veränderung und Anfangs-, End- und Wendepunkte zu versöhnen. Alles fließt,