Zeit zählt. Andrew Abbott
Abbott uns zu einer sensiblen Suche nach den Varianten auf, wie sich Ereignisse und Ereignissequenzen verketten. Es geht ihm um »varieties of enchainment«, um der Vielfalt dieser Verbindungen, Verknüpfungen und Vernetzungen gerecht zu werden.166
Ein auf der Höhe der Abbott’schen Intervention argumentierendes prozesssoziologisches Denken dürfte sich also nicht mit Hinweisen darauf begnügen, dass sich alles stets verändert. Vielmehr müsste eine so aufgestellte Soziologie über die »nature of sequence order« der Prozesssegmente informieren können.167 Welche Bedeutung hat die Reihenfolge der Ereignisse, wie ist sie sozialtheoretisch zu erfassen und wie epistemologisch und methodologisch zu ermitteln?168 Das Werden des Sozialen ernst zu nehmen und nicht mehr als Zwischenschritt zwischen zwei festen Aggregatzuständen zu theoretisieren bedeutet mit Abbott ferner auch nicht, Anfang, Ende oder Wendepunkte aus der Analyse zu verbannen – im Gegenteil! Diesem Problem nachzugehen heißt, um es nochmals mit Abbott zu sagen, über theoretisches Rüstzeug zu reflektieren, das der Erfassung prozessualer Konvergenzen und Divergenzen dient. Zu ermitteln, wie die Bedingungen eines Prozesses dessen Ende, Ausgang oder etwaigen Abbruch konditionieren, läuft dabei keineswegs auf den Vorschlag hinaus, nur solche Prozesse zu betrachten, deren Endpunkt absehbar wäre. Doch muss eine Prozesstheorie die Bedingungen und Konstellationen im Auge behalten, die im Zweifelsfall über das Altern, Verlangsamen, Beschleunigen oder Auslaufen von Prozessen mitentscheiden. Andernfalls laufen Prozesstheorien Gefahr, in einer Prozessontologie zu münden, in der die soziale Welt ganz allgemein als unendliches Werden gefasst und womöglich sogar gefeiert wird, jedoch um den Preis, diesem Werden keine spezifizierenden Konturen geben zu können.
Auf eine ganz andere, fast schon entgegengesetzte Weise greift ein anderer sozialtheoretischer »turn« derzeit das Diktum »Zeit zählt« auf, der also die soziale Realität ebenfalls fundamental temporal denkt. Das Paradigma der Wiederholung tritt in Konkurrenz zum Paradigma der Veränderung.169 Gemeint ist hier die sogenannte Praxistheorie. Bei ihr handelt es sich freilich um einen losen Verbund ganz unterschiedlicher, häufig sogar höchst widersprüchlicher Versatzstücke und Forschungsansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Da es uns an dieser Stelle nur um eine grobe Verortung von Abbott innerhalb einer Debatte um die Zeitlichkeit sozialer Realität geht, beschränken wir unsere Darstellung auf eine Linie innerhalb dieses heterogenen Feldes, die man um den Namen Theodore Schatzki ziehen kann.170
Obwohl sein ontologischer Ansatz die basale Zeitlichkeit sozialer Realität betont, grenzt sich Schatzki mehr oder weniger scharf von Prozesstheorien des Sozialen ab. Er positioniert sich explizit gegen Abbott (und andere klassische wie gegenwärtige Autoren wie etwa Henri Bergson und Hans Joas), obwohl er die soziale Welt – in scheinbarer Nähe zu Abbott – als »endless happening« von »events« versteht.171 Auf den ersten Blick scheint es also keine nennenswerte Differenz zu geben, ist doch auch – in den schon zitierten Worten Abbotts – »the world of the processual approach […] a world of events«.172 Allerdings versteht Abbott soziale Entitäten als Ereignisketten, die ein bestimmtes Muster haben (können) – und dieses Verlaufsmuster erscheint uns als Beobachterinnen des Sozialen dann »bloß« epistemisch als Entität. Schatzki aber begreift das »endless happening« menschlicher Koexistenz in der Praxis als primäre sozialtheoretische Substanz.
Im Unterschied zu Abbott versteht Schatzki Dinge nicht als Ereignisketten – es geht hier also nicht darum, beispielsweise Individuen, Gruppen von Individuen (wie die Arbeiterklasse) oder sonstige Entitäten als werdende und vielleicht prekäre Phänomene zu begreifen (mit dem weiter oben zitierten Bild: es geht nicht um Baumstämme in einem Fluss). Sondern die Ereignisse, um die es in der Praxisontologie geht, sind Aktivitäten. Aus Sicht der Praxisontologie besteht die (soziale) Realität aus Handlungen, genauer gesagt aus Sequenzen von Aktivitätsereignissen. Was zunächst existiert, sind nicht Dinge und deren Eigenschaften im historischen Fluss, sondern Aktivitäten, die sich als Ereignissequenzen vollziehen. Es geht also um beispielsweise das Fahrradfahren als Sequenz von Ereignissen und nicht um die Fahrradfahrerin oder das Fahrrad. Nicht Fahrradfahrerinnen und Fahrräder sind die Bausteine von Gesellschaft, sondern Fahrradfahrten.
Wir können an dieser Stelle auf eine genauere Erklärung dieses Ansatzes verzichten, weil es vielmehr darum geht, eine prozessuale Sozialtheorie zu skizzieren, die mit triftigen Argumenten mit Abbott konkurriert. Schatzkis Praxistheorie würde dem Paradigma der Veränderung zugestehen, dass die soziale Realität ein sich ereignendes Tun ist – und kein Arrangement von Individuen, Organisationen und Gesellschaften im Raum, die dann miteinander interagieren. Allerdings würde sie bezweifeln, dass Wandel der Normalzustand dieser sich ereignenden Koexistenz ist.173 Die Praxistheorie beginnt nämlich mit einer von der neovitalistischen und Abbott’schen Intuition nicht nur abweichenden, sondern sie sogar auf den Kopf stellenden Ausgangsbeobachtung. Ihrem Eindruck nach sieht man in der sozialen Realität ständig dieselben, vergleichbaren, allenfalls in Details abweichenden Aktivitätsvorgänge. In der Regel tun Menschen Dinge, die sie selbst oder andere in fast identischer Weise schon einmal getan haben; sie fahren beispielsweise jeden Tag Fahrrad, eine sich ereignende und insofern »prozessuale«, aber eben keinesfalls ständig »werdende« Sequenz. Fahrradfahren wäre sogar nicht mehr als Fahrradfahren erkenn-, durchführ- und vermittelbar, würde es seine Gestalt über bestimmte Parameter hinaus abwandeln. Mit Schatzki lässt sich die soziale Realität deswegen als Ereignissequenzen erfassen, die als Zitate oder Wiederholungen früherer Aktivitäten zu verstehen sind. Die Ereignissequenzen, aus denen unser Handeln besteht, sind für gewöhnlich Wiederholungen vorheriger Sequenzen. Das ist die Grundidee der Praxistheorie. Das Paradigma der Wiederholung denkt soziale Realität nämlich ebenfalls primär zeitlich, setzt den Prozesstheorien aber eine Theorie zyklischer Zeitlichkeit mit einem spezifischen Fokus auf Handeln resp. Aktivität entgegen.
Durch die Affirmation der Bedeutung von Wiederholung und Routine im sozialen Handeln ist die (besser noch einmal: diese Spielart der) Praxistheorie eher dem traditionellen Verständnis der Soziologie als einer handlungstheoretisch argumentierenden Ordnungswissenschaft zuzuordnen, von der sich das prozessuale Denken abheben will. Obwohl also die Praxistheorie Schatzki’scher Prägung das Diktum »Zeit zählt« unterschreibt, steht sie ontologisch nicht vor der Frage, die Abbott als Zentrum prozessualen Denkens beschreibt: »If change is the normal state of things, how does anything ever stay the same?«174 Aus praxistheoretischer Sicht ist eben nicht Veränderung der soziale Normalzustand, sondern die Repetition. Deswegen müsste man aus praxistheoretischer Sicht nicht von einer prozessualen Soziologie sprechen, sondern nach einer Soziologie sozialer Prozesse fahnden, um kurzfristige Veränderungen und systematischen Wandel zu erfassen. Prozesse müssten aus dem Blickwinkel dieser spezifischen Ontologie zirkulärer Zeitlichkeit wieder ganz traditionell von der Ordnung aus gedacht werden (also etwa selbst als Ordnungen oder als Brüche der Ordnung). Das heißt konkret, ungewöhnliche Ereignisse oder auch strukturelle, lang anhaltende und nachhaltige Veränderungen dürften in der Regel dadurch gekennzeichnet sein, dass Menschen vor allem das gleiche weiter machen wie bisher, also Dinge tun, die sie und andere schon einmal getan haben. Prozesse sind aus praxistheoretischer Perspektive vor allem durch Nichtprozessuales gekennzeichnet.
Das prozessuale Denken könnte einerseits davon gewinnen, sich mit der Validität der eigenen Intuition einer ständigen Veränderung kritischer auseinanderzusetzen, ganz im Sinne von Abbotts fraktaler Heuristik. Andererseits dürfte gerade das Paradigma der Wiederholung von einer intensiveren Lektüre Abbotts profitieren. Schließlich wird die Praxistheorie den wiederholt geäußerten Verdacht eines Stabilitäts-Bias ihrer Beobachtung – also einer Überzeichnung der Konstanz sozialen Geschehens im »endless happening« – bekanntlich nicht los.175 Mit seinem gleichzeitigen Blick auf das Werden als eigenständiges (und nicht vom Gewordenen her gedachtes) Phänomen und auf die Muster des Werdens, die Verkettungsmechanismen und Ordnungsprinzipien des Wandels, verwickelt Abbott das Paradigma der Veränderung und das Paradigma der Wiederholung in ein produktives Gespräch. Insbesondere sein Konzept der Ökologie als Arrangement fließender Zusammenhänge ganz unterschiedlicher Aktivitätsfelder schlägt Brücken zwischen Praxis- und Prozesssoziologie. Das prozessuale Denken könnte sich so als temporales Drittes zwischen den Theorien der Wiederholung und den Theorien des radikalen Werdens