Zeit zählt. Andrew Abbott

Zeit zählt - Andrew Abbott


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Abbott, Prozessuales Denken. Reflexionen über Marx und Weber, Hamburg 2019, S. 56–57.

      2Die Autoren und der Übersetzer verfolgen das Ziel gendergerechter Sprache, indem sie wahllos zwischen den grammatikalischen Geschlechtern wechseln.

      3Da solche Definitionen von Gebilden in letzter Konsequenz Imaginationen von Gesellschaft erzeugen, in der sich dann eben Staaten (oder Staat und Zivilgesellschaft), Organisationen (oder Organisation und Individuum) und Klassen (oder Kapital und Arbeit) als gesonderte Elemente in einem Raum gegenüberstehen, sprechen manche von einem »Raumparadigma«, das in der Soziologie vorherrscht. Sie hat in der Tat zumindest eine Neigung zu »verräumlichtem« Denken, die Robert Seyfert treffend »methodologischen Extensivismus« nennt (Robert Seyfert, »Lebenssoziologie – eine intensive Wissenschaft«, in: Heike Delitz/Frithjof Nungesser/Robert Seyfert (Hg.), Soziologien des Lebens. Überschreitung – Differenzierung – Kritik, Bielefeld 2018, S. 373–407).

      4Hans Joas, »Gefährliche Prozessbegriffe. Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung«, in: Karl Gabriel/Christel Gärtner/Detlef Pollack (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik. Zweite, um ein Register ergänzte Auflage, Berlin 2012, S. 603–622.

      5Materiale Ergebnisse finden sich in lesenswerter Form in Sammelbänden wie Karl-Georg Faber/Christian Meier (Hg.), Historische Prozesse. Beiträge zur Historik, Bd. 2. München 1978; Hans-Peter Müller/Michael Schmid (Hg.), Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt am Main 1995; Rainer Schützeichel/Stefan Jordan (Hg.), Prozesse – Formen, Dynamiken, Erklärungen, Wiesbaden 2015.

      6Niklas Luhmann, »Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution«, in: Faber/Meier (Hg.), Historische Prozesse, S. 413–440, hier S. 421.

      7Wir beschränken uns hier darauf, etwas ausführlicher auf den deutschsprachigen Diskurs einzugehen. Die Diagnose trifft aber auch auf einschlägige englischsprachige Werke zu, darunter Allan G. Johnson, The Blackwell Dictionary of Sociology, 2. Auflage, Malden 2000; Judith R. Blau (Hg.), The Blackwell Companion to Sociology, Malden 2004; Stella R. Quah/Armaud Sales (Hg.), The International Handbook of Sociology, London 2000.

      8Sina Farzin/Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2015.

      9Siehe dazu die betreffenden Beiträge auf S. 41, S. 92 und S. 114. Zu anderen Grundbegriffen wie »Struktur«, »Macht« oder »Institution« gibt es dagegen sehr wohl allgemeine Einträge – zusätzlich zu Artikeln über Phänomene, die als Beispiele für Strukturen oder Institutionen gelten können.

      Um Missverständnisse zu vermeiden: Unsere Anmerkungen sind keine Kritik an Sina Farzin und Stefan Jordan, die das Lexikon herausgegeben haben – etwa derart, dass sie den soziologischen Diskurs nicht genau genug nach dem Prozessbegriff durchforstet hätten, sodass die Notwendigkeit eines entsprechenden Eintrags von ihnen nicht erkannt worden wäre. Vielmehr ist es ein Beleg für die These, wonach es schlicht keine ernst zu nehmende theoretische Tradition der genaueren Bestimmung dieses Grundbegriffs gibt.

      10Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, 5. Auflage, Stuttgart 2007; Raymond Boudon/François Bourricaud, Soziologische Stichworte. Ein Handbuch, Opladen 1992; Heinz-Günter Vester, Kompendium der Soziologie I–III, Wiesbaden 2009–2010.

      Das in dritter Auflage veröffentlichte und von Günter Endruweit herausgegebene Wörterbuch der Soziologie (Konstanz 2014) enthält immerhin einen Eintrag zu sozialen Prozessen, ebenso das 2011 erschienene, grundlegend überarbeitete und von Werner Fuchs-Heinritz u.a. herausgegebene und in fünfter Auflage erschienene Lexikon zur Soziologie. Beide Beispiele – Wörterbuch und Lexikon – verdeutlichen dabei auf je eigene Weise noch einmal die theoretische Unterbestimmtheit dieses vernachlässigten Grundbegriffs – unbeschadet der Tatsache, dass sie den Prozessbegriff durch einen eigenen Eintrag als eigenständiges Theoriesegment verstehen, das sich von Prozessdiagnosen unterscheidet.

      Denn der Eintrag zu Prozess als sozialtheoretischem Grundbegriff im Wörterbuch (S. 372) ist zunächst deutlich kürzer als die Einträge zu einzelnen Prozessdiagnosen, etwa »Differenzierung« (S. 77–80), »Individualisierung« (S. 179–181) oder »Modernisierung« (S. 326–328), was wiederum darauf verweist, dass es viel mehr über Debatten zu Prozessbeispielen als zu Prozessualität selbst zu berichten gibt. Womöglich hat sich der Herausgeber und Verfasser des Eintrags auch deswegen dazu entschlossen, die Kategorie aufzulösen und als »Sammelbezeichnung für alle Gegenstände in der Soziologie, die Vorgänge zwischen Subjekten meinen«, zu bezeichnen (Günter Endruweit, »Prozesse, soziale«, in: ders./Gisela Trommsdorff/Nicole Burzan (Hg), Wörterbuch der Soziologie, 3. Auflage, Konstanz 2014, S. 372). Prozessualität geht in dieser Definition somit in allgemeiner Sozialität auf, was jedoch der ubiquitären Verwendung von individualisierenden oder typisierenden Prozessbegriffen in der Forschungspraxis widerspricht.

      Eine zweite und wahrscheinlich den vielfältigen Verwendungen des Prozessbegriffs in der sozialwissenschaftlichen Forschung eher entsprechende Definition findet sich im Lexikon. Zwar wird der Prozessbegriff mit einem eigenen Eintrag gewürdigt, doch Prozessualität dann in verallgemeinerter Form als »Aufeinanderfolge verschiedener Zustände eines Objekts in der Zeit« definiert (»Prozess«, in: Werner Fuchs-Heinritz u.a. (Hg.), Lexikon zur Soziologie, 4. Auflage, Wiesbaden 2007, S. 518–519, hier S. 518). Bedenkt man aber, dass Zeit genau besehen selbst nicht anders verstanden werden kann denn als bemerkte Variation, dann fragt man sich, ob der Eintrag nicht besser »Zeit« hätte heißen müssen. Eine solche Definition von Prozess verabschiedet den Begriff und macht es unmöglich, ihn als eine grundlegende und gleichsam spezifizierende Kategorie wie »Struktur« oder »Institution« zu fassen. Denn wer Prozess schlicht als Unterschied zwischen zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Zuständen, d.h. als Veränderung definiert, identifiziert Prozess mit Zeitlichkeit – und löst den Begriff auf. Das Stichwort der »Prozesssoziologie« (ebd., S. 519) wird dementsprechend als Synonym für die Arbeiten von Norbert Elias, nicht aber für eine bestimmte soziologische Perspektive oder einen Problemkomplex verwendet.

      In einigen Fällen finden sich allerdings Einträge zu »sozialem Wandel«, die zumindest einen Teilbereich der Beispiele abdecken sollen, die gemeinhin als Prozesse gefasst werden. Mit Wandel sind in der Regel lediglich großformatige gesellschaftliche Veränderungen aufgerufen, etwa im Lexikon Soziologie und Sozialtheorie von Farzin und Jordan sowie im Wörterbuch der Soziologie von Endruweit u.a. Der Begriff ist somit zu eng, um ersatzweise zu leisten, was dem Prozessbegriff in seiner vielfältigen Verwendung in Prozessdiagnosen zugemutet wird.

      11Hans Joas/Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt am Main 2004, S. 196, 201.

      12Etwa Andrew Abbott, »Nach dem Chaos: Selbstähnlichkeiten in den Sozialwissenschaften«, in: Christian Dayé/Stephan Moebius (Hg.), Soziologiegeschichte. Wege und Ziele, Berlin 2015, S. 284–307; ders., Prozessuales Denken. Zur deutschen Rezeption siehe Frank Adloff/Sebastian M. Büttner, »Die Vielfalt soziologischen Erklärens und die (Un-)Vermeidbarkeit des Eklektizismus. Zu Andrew Abbotts Soziologie fraktaler Heuristiken«, in: Zeitschrift für theoretische Soziologie 2 (2013), 2, S. 253–267.

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