Zeit zählt. Andrew Abbott

Zeit zählt - Andrew Abbott


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Zugangsweisen zum Sozialen wählen, weil bestimmte Grundsatzprobleme offensichtlich nicht aus der Welt zu schaffen sind und diese Probleme aus eben sehr unterschiedlichen Perspektiven auf immer gleiche Weise angegangen werden.118 Im Kern handelt es sich bei diesen Binaritäten um die »großen Debatten« der Sozialwissenschaften, darunter Positivismus vs. interpretatives Paradigma oder Realismus vs. Konstruktivismus119, die – und das ist das Entscheidende – im jeweiligen theoretischen Lager wiederum zu binären Konstellationen führen. Auch innerhalb des interpretativen Paradigmas beispielsweise kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen denen, die einen stärker positivistischen Wissenschaftsanspruch erheben möchten, und solchen, die völlig darauf verzichten wollen. Innerhalb des realistischen Lagers gibt es diejenigen, die auf konstruktivistische Argumente zugehen, im Unterschied zu denjenigen, die dies vollständig ablehnen, etc. Die soziale Organisation der Sozialwissenschaften weist also keine vollständige Kongruenz mit den zentralen symbolischen Unterscheidungen auf: In einem Lager finden sich immer auch solche Studien, die den Prämissen der jeweils gegnerischen Position folgen, wodurch letztlich erst die alle Ebenen umgreifende Selbstähnlichkeit entsteht und sich reproduziert. Das heißt, die Sozialwissenschaften spalten sich immer wieder an Gabelungen theoretischer Debatten auf, nur um dann zu »alten« Gabelungen zurückzukehren und die Debatten im jeweiligen neuen Subfeld zu wiederholen. Selbstähnlichkeit ist ein Prozess: Sie schreibt sich weiter fort, indem Forschende die jeweiligen Binaritäten immer wieder aufs Neue rekombinieren und auflösen. Darin besteht gerade die Kreativität der Sozial- und Geisteswissenschaften.120 Abbott selbst spricht mit Blick auf die eigene Position, wie gesehen, von einem »narrativen Positivismus«, eine Formulierung, die paradox klingen mag, aber letztlich genau jene (Re-)Kombinatorik charakterisiert, die er für das zentrale Erkenntnisprinzip der Sozialwissenschaften hält. Methods of Discovery ist daher nicht nur ein Buch über konventionelle Heuristiken121, geschweige denn über normalwissenschaftliche Gemeinplätze.122 Es stellt die zentrale Bedeutung fraktaler Heuristiken heraus, Erkenntnisgewinn dadurch zu realisieren, (scheinbare) Oppositionen sozialwissenschaftlichen Denkens miteinander zu verbinden.


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