Der Schreiberling. Patrick J. Grieser
zu befestigen, denn dies erforderte mehr manuelle Feinarbeit, als ein Seil über den Ast zu werfen. Die Gefangen versuchten sich verzweifelt zu wehren, doch Picketts Handlanger hielten sie in Schach.
»Ich will euch singen hören«, säuselte Pickett wieder und blickte erwartungsvoll in die Runde.
»Sir, ich habe einen zwei Jahre alten Sohn. Bitte verschonen Sie mich!«, ertönte es angstvoll aus einer Kehle.
»Wenn Sie mich losbinden, dann gebe ich Ihnen mein ganzes Geld. Ich habe zu Hause einen ordentlichen Batzen angespart. Bitte!«, flehte ein anderer Mann verzweifelt um sein Leben.
Zehn Minuten später hingen sie wie Vieh im Schlachthof an den Klaviersaiten und kämpften erfolglos um ihr Leben. Die Klaviersaiten bohrten sich ins Fleisch; Blut rann aus dem Hals. Einer der Gehängten war so schwer, dass sein Gewicht stark nach unten zerrte und die stählerne Schlinge wie Butter durch sein Fleisch und sein Genick schnitt. Hart schlug der kopflose Körper auf dem staubigen Boden auf, während sich aus dem Stumpf eine wahre Blutfontäne ergoss. Die anderen Gehängten hatten nicht dieses Glück. Die Laute, die aus ihren geschundenen Kehlen erklangen, waren eine Mischung aus einem leisen Krächzen und Wimmern, während ihr Mund sich langsam mit Blut füllte und dieses sich über ihre Lippen ergoss. Das war es, was Pickett meinte, als er Ricardo befahl, die Männer zum Singen zu bringen. Die armen Teufel am Baum zappelten wie wild, während langsam alles Leben aus ihrem Körper wich. Es sollte jedoch noch einige Minuten dauern, bis sie endlich von ihren Qualen erlöst wurden.
Währenddessen stand Desmond Pickett mit heruntergelassener Hose vor den sterbenden Maverickjägern und onanierte. Einige seiner Männer grinsten, während andere ihren Ekel unterdrücken mussten. Sie wussten, dass Pickett ein Irrer war. Aber niemand wagte dies laut auszusprechen, denn sonst wäre er der Nächste, der um sein Leben singen würde.
Picketts farblose Augen gierten die zappelnden Leiber der Gehängten an; es schien, als wäre doch noch so etwas wie Leben in ihnen. Eine tiefe, niemals enden wollende Lust trieb diesen Irren zum Höhepunkt und brach dann mit einem lauten Schrei ab. Die Gehängten waren tot! Ihre Beine zuckten immer noch unrhythmisch hin und her, als wolle der Körper nicht akzeptieren, dass sich kein Leben mehr darin befand. Ein wohliger Schauer durchlief Pickett, er hatte dieses Schauspiel in vollen Zügen genossen.
»Mann, war das geil!«, schnurrte er wie eine zufriedene Katze. Während Pickett die Hose wieder hochzog, bemerkte er, dass etwas Weißes auf seinen makellosen Reitstiefeln gelandet war. Hastig fischte er das karierte Tuch aus seiner Tasche und begann, die Stiefel wie ein Wilder zu putzen. Immer und immer wieder. Seine Bewegungen wirkten dabei fahrig und verkrampft.
Keiner der Männer wagte es, Pickett anzuschauen. Einige starrten in die Weite der Prärie, andere schienen plötzlich ein ungewöhnliches Interesse an ihren eigenen Stiefeln gefunden zu haben.
»Verfluchte Scheiße!«, brüllte Pickett und es klang, als ob ein kleines Kind einen Wutanfall hatte. Er spie auf seine Stiefel, um mit seiner Spucke die Schlieren zu entfernen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er das Tuch wieder wegsteckte und zufrieden auf seine Stiefelspitze schaute. Neuerliche Schweißperlen hatten sich auf seinem Schädel gebildet.
Pickett atmete tief ein und sein hagerer Körper schien sich von jetzt auf die nächste Sekunde zu beruhigen. Der Wutanfall war verschwunden und zurück blieb dieses leere ausdruckslose Gesicht mit den fast farblosen Augen.
»Wir kehren zum Stammhaus zurück!«, sagte er und wandte sich von den Toten ab. Die Männer erwachten aus ihrer Starre und eilten zu ihren Pferden.
»Ich werde Jenny heute keine Lust mehr bereiten können«, meinte Pickett zu dem Rattengesicht Gary, während sie aufstiegen.
»Warum nicht, Boss?«
»Ich muss mich erst erholen. Morgen werde ich es ihr ordentlich besorgen!«
»Genau, Boss!«, lachte Gary und gab seinem Pferd das Zeichen, sich in Bewegung zu setzen.
»Jetzt brauche ich etwas Anständiges zum Essen. Der Nigger soll uns ein Festmahl kochen!«, rief Pickett seinen Männern zu. Die Männer grölten ihre Zustimmung, denn sie waren ebenso hungrig wie ihr Boss.
Und so ritten Desmond Pickett und seine Bande zurück zu ihrem Stammhaus in den Wäldern.
2
Fast hundertfünfzig Jahre später in den Tiefen des Odenwaldes …
Zwischen Reichelsheim und Michelstadt gab es eine Landstraße, die durch ein Feld-, Wald- und Wiesengebiet führte, das die Einheimischen liebevoll die »Hutzwiese« nannten. Woher der Name kam, konnte niemand wirklich erklären. Selbst der Präsident des Odenwälder Trachtenvereins konnte nur mit den Schultern zucken und darauf hinweisen, dass die Hutzwiese schon immer so geheißen hätte. Die Hutzwiese war eben die Hutzwiese! Dort lebten nur vereinzelt Menschen, die ihre Häuser in unmittelbarer Nähe der Landstraße bauten, denn die angrenzenden Areale waren weiträumig Naturschutzgebiete. Die Landstraße führte durch dichtes Waldgebiet, manchmal in engen Serpentinen, aber auch in langen Strecken, die einfach nur geradeaus verliefen. An einem der höchsten Punkte inmitten des Waldes lag das Gasthaus »Die vier Tannen«, ein beliebtes Ziel für alle Odenwälder, aber auch für Leute aus den angrenzenden Städten wie Darmstadt oder Frankfurt, war es doch für seine hervorragenden Wildgerichte bekannt (Wild, das direkt von den grünen Auen der Hutzwiese stammte). In dem Gasthof konnte man sonntags einfach mal die Seele baumeln lassen und die kulinarischen Besonderheiten des Odenwaldes genießen. Vergessen war für wenige Augenblicke der Stress des Alltags, dem die Stadtmenschen ausgesetzt waren. Allerdings hatte es auf der Landstraße schon viele Verkehrstote gegeben, denn die Besucher der Gaststätte achteten nicht auf ihren Alkoholkonsum. Zu verlockend war das Angebot an Rotweinen, insbesondere aus dem angrenzenden Groß-Umstädter Weingebiet. Und so kam es, dass viele Gäste die Heimreise in volltrunkenem Zustand antraten, der manchen unbeteiligten Autofahrer schon das Leben gekostet hatte. Aber auch Motorradfahrer blieben nicht verschont, denn die Serpentinen waren tückisch und der eine oder andere Raser war an einem der massiven Baumstämme mit seiner Maschine im wahrsten Sinne des Wortes zerschellt.
Unterhalb der Gaststätte gab es in einer Kurve eine Reihe von Häusern, die offiziell zur Gemeinde Reichelsheim zählten. Es waren Bauernhöfe, aber auch Häuser, die im ländlichen Stil errichtet waren.
In einem dieser einfachen Fachwerkhäuser lebte Hubert Arras, den seine Nachbarn gemeinhin als Sonderling abtaten. Jeder in Reichelsheim kannte den Hubert, denn er fiel auf, wenn man an ihm vorbeifuhr oder ihn in der örtlichen Tanzbar sah. Er selbst hatte sich den Spitznamen »Don Tiki« gegeben und bestand auch darauf, dass man ihn mit diesem Namen ansprach. Der Name stammte von einer weitgehend unbekannten Musikband aus Hawaii, die an eine exotische Welt aus den Fünfzigerjahren erinnerte, als jede amerikanische Stadt eine eigene Tiki-Bar hatte, die den Geist der geheimnisvollen Götter Polynesiens heraufbeschwor. Ähnlich wie »Die vier Tannen« boten diese exotischen Szenebars einen Rückzug aus der stressigen Alltagswelt in ein Paradies aus Harfenklängen, Bongos und anmutigen Hulatänzerinnen.
Don Tiki war immer in Hawaiihemden gekleidet, wenn er auf den Straßen von Reichelsheim zu sehen war. Sein ganzer Kleiderschrank war voller Hemden, die meisten davon stammten aus den Textilfabriken von Reyn Spooner, die seit 1956 Original-Hawaiihemden in den verschiedensten Farben und Designs herstellten. Egal, welches Wetter herrschte, Don Tiki war auch im Winter mit kurzen Khakihosen anzutreffen. Seine Augen versteckte er hinter einer dieser großen Sonnenbrillen, wie sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren einst modern gewesen waren. Er besaß nur noch einen kleinen schütteren Haarkranz, der seinen kahlen Kopf umsäumte und Erinnerungen an die Tonsur eines Mönches erweckte. Ja, Don Tiki war ein Sonderling und ein Reichelsheimer Original! Die Leute erinnerten sich an den Freak, wo auch immer er auftrat.
Nicht weniger sonderbar war auch sein altes Fachwerkhaus in der Hutzwiese, das seinen Eltern gehört hatte, die im vergangenen Sommer verstorben waren. Nach dem Tod der Eltern hatte er Haus und Hof nach seinen exotischen Wünschen verändert: Überall standen große Tiki-Masken, lang gezogene Schädel mit mythischen Fratzen, die die polynesischen Götter darstellten.