Das Tartarus-Projekt. Gerd Schilddorfer
Gästen vor Ort natürlich neugierig verfolgt, auf Handy und Tablet-PC.
Als Film im Film sozusagen …
Während also Winter in ausgebeulten Jeans, blassem T-Shirt und trendigem Rohseidenschal lässig den erfolgreichen Hausherrn gab und sich verbindlich lächelnd in Small Talk übte, war er mit seinen Gedanken wahrscheinlich schon wieder bei seiner nächsten Start-up-Gründung.
Irgendwer drückte Landorff ein neues Glas in die Hand und entsorgte fürsorglich das leere. Einen Dank murmelnd blickte er sich rasch um, schon um seine Gedanken von der schreibenden Schillerlocke loszueisen. Die Hälfte der Besucher stand planlos im Raum verteilt, hielt sich das Handy vor die Augen und starrte fasziniert auf das Display.
War was? Hatte Trump mit nacktem Oberkörper auf einem galoppierenden Pferd Blutsbrüderschaft mit Putin geschlossen? Oder war es nur die übliche kollektive Sprachlosigkeit: Wer zwitschert Nonsens schneller?
Der neue Whisky schmeckt besser als der alte, dachte Landorff und nickte anerkennend. Brannte zwar mehr im Abgang, war aber rauchiger. Griff Winter jetzt seine privaten Bestände an? Vielleicht sollte er doch noch ein wenig länger hier bleiben. Er schnupperte an der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Bis zum Talisker Storm liegt noch ein langer Weg vor mir, dachte er. Doch mit etwas Durchhaltevermögen …
Er schaute auf die Uhr. Erst knapp vor 23.00 Uhr. Also … whiskymäßig drei Uhr früh könnte hinkommen, man musste sich nur mit seiner Leber abstimmen.
Schillerlocke schwang inzwischen einen Montblanc wie einen Zauberstab und grinste dümmlich seine weibliche Entourage an.
Der und ein Buch schreiben … Landorff schüttelte den Kopf. Dieses haltlose Buchschreiben durch Hinz und Kunz, Ping und Pong, Pocher und Becker, Schicki und Micki begann auszuufern, war auf dem besten Weg, eine neue Volksbelästigung zu werden. A-, B-, C-, D- und E-Prominenz, die sich früher dankenswerterweise auf simples Dasein beschränkt hatte, schrieb jetzt ungeniert drauflos. Oder diktierte Lebensweisheiten an Ghostwriter. Wenigstens die hatten Hochsaison. Kein Wunder, dass der durchschnittliche Buchhändler keinen Platz mehr in seinen Regalen hatte. Denn fieserweise erschienen die Prominenten in bekannten und großen Verlagen, die besagten Buchhändlern bei der Gelegenheit gleich ihr gesamtes Programm aufs Auge drücken konnten. Bestseller und Ladenhüter, Kochbücher und Bettbeichten, inklusive wahllos aufs Papier gekotztem prominenten Nonsens, der vierzehn Tage vor dem Erscheinen einen passenden Skandal braucht, um überhaupt Aufmerksamkeit zu erregen.
Schillerlockes Vater hatte sicher 5689 Freunde auf Facebook, schoss es Landorff durch den Kopf. Der Verkauf der Startauflage war hiermit gesichert, egal welchen Schwachsinn der Filius zwischen zwei Covern (v)erbroch.
„Was träumst du hier rum?“
Die raue Stimme von Melissa riss Landorff aus seinen düsteren Gedanken. Sie hatte sich für einen schwarzen Hosenanzug entschieden, der sie elegant und gleichzeitig ein wenig verrucht aussehen ließ, weil sie drunter die Bluse weggelassen hatte und nur einen schwarzen BH trug. Das halb offene Jackett war eine perfekte Bühne für die redlichen Bemühungen des Push-ups, Melissas schon von Haus aus üppiger C-Oberweite ein Upgrade auf D zu verpassen.
„Hey! Meine Augen sind hier oben!“, beschwerte sie sich theatralisch und schüttelte effektvoll ihre tiefschwarze Mähne, bevor sie Landorff mit erhobenem Finger drohte.
„Aber meine sind gerade woanders“, gab er zu, dankbar für die Unterbrechung. Milchbartbubi visierte inzwischen über die Spitze des Montblanc fasziniert Melissas Ausschnitt an und schien sein Buchprojekt vergessen zu haben. Vielleicht würden mehr tiefere Dekolletés so manches schlechte Buch verhindern, dachte Landorff kreativ.
„Kommst du mit mir zur zweiten Buffetschlacht?“
Melissas dunkelbraune Augen sahen ihn erwartungsvoll an, bevor sie Milchbubi samt weiblicher Entourage in einem einzigen abschätzigen Rundum-Blick auf die hinteren Plätze der Schöpfung verwies.
„Oder machst du hier einen auf Kindergarten?“
Der Montblanc zeigte noch immer auf den Designer-Kronleuchter, als Landorff seinen Arm demonstrativ um Melissa legte und sie sanft in Richtung Buffet schob. „Der will auch ein Buch schreiben …“, weihte er Melissa in seine neuesten Erkenntnisse ein.
„Wird wahrscheinlich ein Aufsatz, nein, eher eine Kürzestgeschichte“, winkte sie ab und betrachtete interessiert den Rehrücken auf Orangenschaum. „Wenn überhaupt …“
„Sein Vater …“, begann Landorff.
„… hat das Buffet geliefert“, vollendete sie lakonisch. „Metzgermeister Zahlmann. Deshalb hängt sein Spross hier ab.“
„Der Möchtegern-Literat ist der junge Zahlmann?“, entfuhr es Landorff. „Der trägt sonst blutigen Kittel und hat seine Hände bis zu den Ellenbogen im Wurstbrät?“
„Kennst du eigentlich irgendjemanden hier, den Gastgeber und mich ausgenommen?“, mokierte sich Melissa und drückte Landorff einen Teller in die Hand. „Oder bist du nur wegen des Essens hier?“
„Touché, ma chère“, gab Landorff grinsend zu und lud sich zwei Scheiben Hirschschinken mit Preiselbeergarnitur auf Pfifferling-Mousse auf. „Und den Gastgeber kenne ich nicht. Aber er kennt offenbar mich.“ Gefolgt von Forellenfilet mit Meerrettichsahne. „Außerdem hatte ich heute Abend sowieso nichts anderes vor“, verteidigte er sich lahm.
„Welch’ Glück für uns alle, und vor allem für Winter“, ätzte Melissa, „der wüsste sonst sicher nicht, wohin mit den Fressalien. Ich dachte, du schreibst an deinem neuesten Thriller?“
„Da halte ich es genauso wie ein Freund von mir, der nach fünf Uhr nachmittags nichts mehr isst“, dozierte Landorff, während seine Hand über dem Brötchenangebot schwebte wie ein zögerlicher Geier. „Außer, das Gelage wird von jemandem anderen bezahlt, dann schlemmt er wie ein ausgehungerter Hugenotte. Der er im Übrigen auch ist.“
Melissa ließ nicht locker. „Jetzt schweif nicht ab. Wie weit bist du jetzt mit dem nächsten Buch?“
„So ziemlich mittig“, antwortete Landorff locker. „Ich erinnere mich nicht mehr an den Anfang, dafür liegt das Ende noch völlig im Dunkeln.“
„Sag mal, hast du nur getrunken oder auch etwas geraucht?“ Melissa kniff ihre Augen zusammen und betrachtete Landorff forschend. „Der Schwarze Afghane tut dir nicht gut.“ Dabei streckte sie ihre Hand aus, trat zwei Schritt zur Seite und drängte so unerbittlich eine übertrieben geschminkte Blonde Mitte fünfzig in trägerlosem Kleid und daher mit haltlosem Busen ins Mehlspeisen-Aus.
„Hast du überhaupt schon einen Verlag?“, setzte sie nach, ohne Landorffs Antwort abzuwarten. Der brummte Unverbindliches vor sich hin. „Ich möchte heute über gewisse Themen nicht reden“, raunte er ihr zu. „Schon gar nicht angesichts der kulinarischen Verlockungen, die vor mir liegen.“
„Heyiiii! Siiieeee!“, wagte es die Blonde, sich aufzuregen, während Melissas Ellenbogen sie eisern auf Distanz hielt.
„Sie werden es noch erwarten!“ Melissa musterte sie kühl von oben bis unten. „Oder stehen sie auf hormonverpestete Putenfilets auf Chemiesauce und über den Haufen geschossenes Rehkitz namens Bambi? Seien Sie froh, wenn ich Sie davor bewahre. Nehmen Sie lieber etwas von dem Schokopudding. Ist in Ihrem Alter viel leichter zu verdauen.“ Daraufhin griff sie ungerührt und vor allem ungestört weiter zu. „Also, nochmal – Verlag?“, schoss sie sich weiter auf Landorff ein, doch der schüttelte nur stumm den Kopf.
Vollkornspitz oder besser doch Weizenbrötchen?
„Und dein Agent? Schläft der nur oder wacht der auch mal auf?“, setzte sie nach. „Wovon lebt der eigentlich? Weil von deinen Honorar-Prozenten kann der kaum seine Parkuhr bezahlen.“
„Erstens, ja, üblicherweise hat er einen tiefen und festen Schlaf, und zweitens, von seiner reichen Frau.“
Also Vollkorn, man muss ja etwas für seinen Stoffwechsel tun.
„Wo ist hier übrigens