Morphium / Nach dem Tode / Doctor Cäcilie. Adine Gemberg

Morphium / Nach dem Tode / Doctor Cäcilie - Adine Gemberg


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verkorkte sie erst sehr sorgfältig das Fläschchen und überzeugte sich, dass der Verschluss wasserdicht war. Ein verlorener Tropfen war ja unersetzlich.

      Vorsichtig schob sie das Kleinod in die Tasche des Kleides zurück. Erst als es da in Sicherheit war, steckte sie mit energischem Druck die Nadel auf das kleine Instrument. Ihre Hände zitterten dabei, teils in der Vorfreude des zu erwartenden Genusses, teils in der Schwäche, in der das Bedürfnisse nach diesem Genuss beruht.

      Sie schob den Ärmel ihres Kleides vom Handgelenk zurück. Ein Leinwandstreifen wurde sichtbar. Sie riss ihn rasch los. Der kleine Verband bedeckte eine breite, wenn auch nicht tiefe Wunde, die durch den Morphiumgebrauch entstanden war. Seit Jahren bedurften die kranken Nerven des anregenden Mittels, und um die Schönheit ihrer Arme nicht zu opfern, hatte sie diese eine Stelle ganz preisgegeben. Der misshandelte Körperteil wehrte sich zwar durch Schmerzen und anhaltende Eiterung gegen das ihm aufgezwungene Gift, aber schließlich wurde die Stelle doch ziemlich unempfindlich.

      Sie senkte auch jetzt, wie immer die Nadel hier ein. Ein leichter Schmerz zog für einen Augenblick ihre Brauen zusammen, aber das dauerte nicht lange. Der Inhalt der Morphiumspritze verschwand unter der Wunde, der Leinwandstreifen bedeckte rasch wieder die Stelle. Sorgfältig reinigte sie mit einem kleinen Stück Draht das gebrauchte Instrument, dann klappte sie das Etui zu, steckte es ein und lehnte sich gegen den Rücken der Bank, um die Wirkung zu erwarten.

      Mit wonnigem Behagen fühlte sie, wie ein berauschendes Empfinden ihr Gehirn, ihre Glieder erfüllte und zugleich lähmte. Alle Wünsche, alle Bedürfnisse des Körpers und Geistes lösten sich in Befriedigung und süße Mattigkeit. Der kranke stumpfe Ausdruck der Augen schwand und machte einem lebhaften, sprühenden Blicke Platz. Die Nerven wussten nichts mehr von Abspannung und Schwäche.

      Sie hätte jetzt auf jedem Feste glänzen, jede Arbeitsleistung übernehmen können. Dabei waren ihre Glieder aber doch schwer, so dass sie es entschieden als Annehmlichkeit empfand, zu seiner Bewegung genötigt zu sein. Nur der Kopf war leicht und frei – so frei, so klar, als ob ein vorher auf dem Gehirn lastender Druck plötzlich entfernt wäre. Sie hatte Durst empfunden, das war jetzt vorbei, sie fühlte sich wohl, namenlos wohl und zufrieden. Ihr vorher gelblich blasses Gesicht nahm etwas Farbe und Wärme an, sie drückte die kühlen, weißen Finger gegen ihre Wangen. Dann zog sie langsam, gedankenlos lächelnd die Handschuhe wieder an, die auf der Bank lagen.

      Sie hatte den Augenblick für ihren Genuss gut gewählt, denn mit der, vorher herrschenden Ruhe war es nun vorbei. Ein Leichenwagen fuhr durch das große Portal, hielt vor der Kapelle, und ein Sarg wurde zu einer offenstehenden Gruft getragen. Viele Menschen folgten; der Geistliche begann eine Rede, und wenn die einsame Frau auch davon nichts hören konnte, so war sie in ihrem Alleinsein dennoch gestört.

      Außerdem näherte sich ihr jetzt auch ein Herr, der geradeswegs auf sie zukam.

      »Was für ein entzückendes kleines Refuge Sie hier besitzen. Sie sind zu beneiden, gnädige Frau,« begann er, sie begrüßend.

      Sie sah lächelnd zu dem großen blonden Manne empor. »Es sind die Gräber meiner Eltern, Herr Doctor Turnau,« antwortete sie mit einer einladenden Bewegung auf die freie Hälfte der Bank deutend.

      Er nahm sofort augenscheinlich erfreut Platz. »Ist das Stück Rasen, auf dem diese Bank steht für Sie reserviert, gnädige Frau?«

      »Nein, die Eltern kauften es für meine unverheiratete Schwester. Elise wird voraussichtlich einsam bleiben, bis sie den Rollstuhl mit dem Sarge vertauscht. Für meinen Mann und mich ist noch Platz im Bremerschen Erbbegräbnisse.«

      »Ich finde, es hat einen ganz eigenen Reiz, genau die Stätte zu kennen, die uns einmal bestimmt ist,« bemerkte er, indem er den leichten Sommerhut abnahm und das blonde Haar aus der hübschen weißen Stirn strich. Sie lachte: »Das ist wieder eine von Ihren paradoxen Ansichten, mit denen Sie sich manchen Menschen vielleicht interessant machen, andrerseits aber sich nicht nur Widerspruch zuziehen, sondern auch viele ungünstige Urteile über sich hervorrufen.«

      »Ah – ein offenes Wort, ich danke Ihnen dafür, gnädige Frau. Die ungünstigen Urteile muss ich zu tragen wissen, aber ich strebe weder darnach Widerspruch zu erregen, noch mich interessant zu machen. Nur aus einer nervösen Beunruhigung heraus empfinde ich zuweilen das Bedürfnis, irgend einen Gedanken, selbst einen sonderbaren Gedanken auszusprechen, wenn er mir grade durch den Kopf geht.«

      »Dieses Bedürfnis; ist natürlich,« antwortete sie, »viel natürlicher für einen gut situierten Mann Ihres Alters, als der Wunsch, die Stätte zu kennen, an der Ihr, jetzt so jugendkräftiger Körper einst zu Staub werden wird.«

      Ein trübes Lächeln glitt über die Züge des jungen Mannes. »Dieser jugendkräftige Körper ist der Auflösung und Verwesung näher, als es den Anschein hat. Wenn wir morgen übers Jahr Mariä Himmelfahrt feiern, brennen vielleicht auch für mich schon die Kerzen auf dem Altar.« –

      Sie sah ihn ruhig und forschend an. »Warum spielen Sie mit dem Gedanken an das Ende des Lebens?« fragte sie ernst. »Glauben Sie nicht, dass auch für Sie noch Stunden der Befriedigung und des Genusses möglich sind, die mit dem Tode aufhören müssen?«

      Wie sie ihn so ansah, leuchtete der rote Strahl der Sonne in ihre erweiterten Pupillen hinein, er sah aufmerksam darauf hin, dann lächelte er: »Ich danke Ihnen, gnädige Frau, dass Sie mich mit einer moralischen Bewertung verschont haben. Ich war eigentlich schon darauf gefasst gewesen. Sie haben übrigens recht, ja – auch ich glaube noch an Stunden des Genusses, an Momente höchster, auf Erden möglicher Befriedigung. – Was ich damit meine, verstehen Sie sicherlich, denn ich sehe, Sie gebrauchen Atropin. Bitte, versuchen Sie nicht, den Mediziner darüber zu täuschen, Sie gebrauchen Atropin, um die Einbuße an Schönheit, die das Auge des Morphinisten erleidet, damit auszugleichen.«

      Sie senkte betroffen den Blick. »Ja, ich gebrauche Atropin,« entgegnete sie zögernd, »aber nicht aus Eitelkeit, wie Sie vielleicht annehmen. Wenn Sie selbst Morphinist sind, so wissen sie auch, dass die Koketterie des Weibes ebenso wie der Ehrgeiz des Mannes in der Seele des Morphinisten erlischt.«

      Er nickte verständnisvoll. »Gewiss gnädige Frau,« entgegnete er, »ich billige den an sich gefährlichen Atropingebrauch, weil er Ihnen den Dienst leistet, Ihre Umgebung über Ihren Morphinismus zu täuschen. In Ihrem Falle ist gewiss keine Koketterie im Spiele. Sie riskieren Ihr Augenlicht, aber Sie müssen es ja. Wer gönnte Ihnen den Genuss, der Ihnen unentbehrlich ist, und wer verdiente wohl in Ihr Geheimnis eingeweiht zu werden? Sie sind, wie alle Morphinisten gezwungen, eine Umgebung zu täuschen, die getäuscht sein will.«

      Erleichtert atmete Lydia auf. Es tat ihr unsagbar wohl, verstanden zu werden. Nur Beurteilung Ihrer Leidenschaft, im günstigsten Falle Mitleid mit einem krankhaften Zustande hatte sie überall angetroffen, wo sie es je gewagt hatte, leise Andeutungen über die Erbitterung zu machen, die sie oft empfand, wenn es ihr fast unmöglich erschien, sich Morphium zu verschaffen. Die Aufregung dieser Erbitterung brachte sie dann zuweilen zum Sprechen.

      »Sie finden also meine Schwäche nicht unbedingt unmoralisch, Herr Doktor?« fragte die junge Frau.

      »Im Gegenteil,« antwortete er lebhaft. »Alle Religionsstifter der Welt empfehlen den Menschen, ihre Leidenschaften zu bekämpfen. Die natürliche Beschaffenheit unserer Nerven setzt diesen Bestrebungen unüberwindliche Hindernisse entgegen. Das Morphium allein besiegt die Leidenschaften in jeder Brust. Wenn ein neuer Prophet seinen Anhängern zur Bekämpfung ihrer natürlichen, menschlichen Triebe Morphium zur freien Verfügung stellte, so würde er bald eine Gemeinde um sich sehen, der jedes Laster fremd wäre.

      »Ich habe augenblicklich nicht genug Morphium genossen, um dem kühnen Fluge einer prophetischen Phantasie bis zu dieser Höhe folgen zu können,« bemerkte Lydia lächelnd, erstaunt den leidenschaftlich erregten Mann ansehend.

      »Soll ich Ihnen geben, was etwa noch fehlt?« fragte er eifrig.

      Sie nickte glückselig und sah erwartungsvoll zu ihm auf:

      »Wie viel Prozent gebrauchen Sie, gnädige Frau?«

      »Sechs,«


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