C -Die vielen Leben des Kohlenstoffs. Dag Olav Hessen
diesem etwas düsteren Seitenblick auf die Nachteile der Beständigkeit des Plastiks verlassen wir die synthetischen Polymere, ohne ein abschließendes moralisches Urteil zu fällen. Der Kohlenstoff hat uns durch die Polymerchemie zweifellos Produkte mit fantastischen Eigenschaften geschenkt, ohne die die Welt, wie sie heute ist, undenkbar wäre. Plastik ist nur eines von vielen Beispielen für Produkte, die im Übermaß problematisch werden und deutlich machen, dass es zu viele Menschen gibt, auf jeden Fall zu viele, die irgendetwas aus Kohlenstoff herstellen wollen.
31Nur wenige Dinge symbolisieren die Abkehr vom Technologieoptimismus besser als das Plastik. Vom Wundermittel und der Speerspitze der Modernität, wurde es – vor allem im Westen – zum Problemmüll. Der zunehmende Konsum der weiter wachsenden Weltbevölkerung äußert sich in immer höheren Müllbergen, doch während sich der organische Müll zersetzt und die dabei anfallenden Methangase als Biogas genutzt werden können, akkumuliert sich das Plastik. Mehr dazu in: Eriksen, T. H. (2011): Søppel. Avfall i en verden av bivirkninger. Aschehoug. Jambeck, J. R. et al. (2015): Plastic waste inputs from land into the ocean. Science 437: 768–771.
32Jambeck, J. R. et al. (2015): Plastic waste inputs from land into the ocean. Science 437: 768–771.
33Hessen, D. O. (2014): Harvest magasin.
34Weisman, A. (2008): Die Welt ohne uns. Piper.
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Synthia als Kohlenstofffabrik
Das Leben und Wirken von uns Menschen besteht in vielerlei Hinsicht darin, uns die Natur untertan zu machen. Während wir über weite Teile unserer Vor- und Frühgeschichte den Launen der Natur preisgegeben waren, haben wir mittlerweile die Kausalzusammenhänge verstanden und nutzen dieses Wissen, um Feuer, Tiere, Fluten und Krankheiten zu bändigen. Mit der zunehmenden Kontrolle über die Natur realisieren wir aber mehr und mehr, dass diese Kontrolle nur von begrenzter Dauer ist. Bakterien und Parasiten haben zu den Waffen der Resistenz gegriffen, Wind und Wetter sind wir noch immer ausgesetzt, und unsere Wasser- und Nahrungsressourcen sind alles andere als unbegrenzt. Dabei wachsen die Weltbevölkerung und ihre Ansprüche beinahe ungebremst. Während die Bevölkerungszahl zunimmt, gibt es immer weniger intakte Natur, was uns vor Augen führen sollte, dass wir keineswegs unabhängig von der Natur sind. Kann im ewigen Kampf gegen Pest und Cholera, gegen die zunehmende Nahrungsmittelknappheit und die Versorgungsengpässe bei Medizin und Rohstoffen möglicherweise das Leben selbst die Lösung bieten? Unsere Kultur basiert darauf, andere Arten in unseren Dienst zu stellen. Vielleicht können wir diesen Gedanken sogar weiterspinnen, denn es ist möglich, dass die ultimative Lösung vieler unserer anstehenden Herausforderungen bei den Bakterien liegt.
Am 26. Juni 2000 wurde »eine der größten Entdeckungen der Menschheit« bekanntgegeben: das menschliche Genom (das gesamte Erbmaterial) war entschlüsselt worden. Der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton äußerte sich auf eine Weise, wie man es in einem Land tun muss, in dem Darwin noch immer mit tiefer Skepsis betrachtet wird: »Wir sind nun in der Lage, die Sprache zu lernen, die Gott nutzte, als er die Welt erschuf.« In der Page 71Pressemitteilung des Weißen Hauses hieß es weiter: »Die Nachricht des Tages ist der Beginn einer neuen Ära der genetischen Medizin«. Es wurde aber auch eingeräumt, dass die »Sequenzierung nur ein erster Schritt in Richtung einer vollständigen Entschlüsselung des Genoms ist, da ein Großteil der individuellen Gene und ihrer spezifischen Funktionen noch gedeutet und verstanden werden müssen.«
Hinter der Entdeckung standen zahllose Forscher der verschiedensten Institutionen. Federführend war aber Craig Venter.35 Der ebenso exzentrische wie geniale Wissenschaftler war auch der erste, der sein eigenes Genom vollständig sequenzierte und so weit deutete, wie es möglich war. Überdies initiierte Venter die Metagenomik, ein neues Forschungsgebiet, das mit modernen molekularbiologischen Methoden die Gesamtheit des Genoms größerer Systeme zu erfassen versucht – vom Darmsystem bis zu gesamten Ökosystemen. Auf einer Forschungsreise in die Sargassosee nahm er Wasserproben, die er später analysierte. Dabei entdeckte er, dass sich dort draußen eine noch weitgehend unerforschte Welt genetischer Informationen befindet.
In diesem Zusammenhang könnte Synthia eine zentrale Rolle beim Aufbruch in eine neue Welt der synthetischen Biologie spielen.36 Zehn Jahre nach Clintons Pressestatement kam eine neue Medienmitteilung, dieses Mal aus Venters eigenem Forschungsinstitut (J. Craig Venter Institute): Der erste synthetische Organismus war erschaffen worden, und dieses Mal war offensichtlich, dass nicht Gott dahinter steckte. Synthia war ein künstlich geschaffenes Bakterium, aufgebaut aus den bekannten Page 72genetischen Bausteinen eines 1,08 Millionen Basenpaare großen Genoms. Venter selbst sagte dazu: «This is probably the first living creature on this planet whose parent is a computer.»
Synthia schuf in gewisser Weise eine Brücke zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen, und in der Tat zwischen Lebendigem und Unbelebtem. Es dauerte volle 15 Jahre, das Genom von Synthia zu erstellen, und diese Leistung stellt selbst die Errungenschaften der Polymerchemie in den Schatten. Von großer Bedeutung sind dabei vor allem die verschiedenen maßgeschneiderten Versionen von Synthia. Bakterien sind selbst in der Lage Polymere zu bilden. Sie erzeugen Bioplastik, Enzyme und Proteine, Antibiotika und Pigmente, um nur einige zu nennen. So wurde zum Beispiel schon vor vielen Jahren mittels Bakterien der Zugang zu Insulin revolutioniert. Die Gene für die menschliche Insulinproduktion wurden dafür in ein Bakterium implantiert, das die genetischen Instruktionen las und sogleich mit der Insulinproduktion begann. Ein beeindruckender Erfolg, auf lange Sicht aber erst der Anfang.
Durch die Justierung oder den Umbau des genetischen Codes der Bakterien können diese zu Biofabriken mit ungeheurem Produktionspotenzial werden. Bakterienkolonien verdoppeln sich unter guten Bedingungen mehrmals pro Stunde und würden – ohne Begrenzung – im Laufe weniger Tage ein Gewicht erreichen, das dem der Erde entspricht. Venter hat die große Vision, Bakterien zu nutzen, um die Probleme zu lösen, die unsere Energieproduktion für den Kohlenstoffkreislauf darstellt. Ein Beispiel dafür ist die massenhafte Produktion von bakteriellem Biobrennstoff, indem man die Fähigkeiten der Cyanobakterien nutzt, Wasserstoff aus dem Wassermolekül H2O abzuspalten. Und natürlich der ultimative Traum von einer biosynthetischen Photosynthese, die jede Solarzelle in den Schatten stellt. Gelingt es uns, die Page 73Bandbreite der benötigten Kohlenstoffprodukte mittels Bakterien herzustellen, welche als Ausgangsstoffe lediglich die unendlich zur Verfügung stehenden Ressourcen CO2, CH4, Wasser und Licht benötigen, verschaffen wir uns wenigstens mehr Zeit.
Synthias Nachkommen haben die Science-Fiction-Ecke längst verlassen und werden bereits in der Industrie genutzt. Die Ölgesellschaft Exxon Mobil hat erst kürzlich 600 Millionen Dollar in ein Projekt investiert, das Cyanobakterien designen soll, die CO2 einfangen und mittels Sonnenlicht in Bioenergie umwandeln. Die Gesellschaft Chevron investierte ihrerseits 25 Millionen Dollar in ein Projekt, bei dem durch eine Umprogrammierung des Bakteriums Escherichia coli Biomasse zersetzt und in Biotreibstoff umgewandelt werden soll.
Diese Art von synthetischer Biologie fällt in den Bereich der sogenannten Bioraffinerie. Diese wiederum ist ein Teil der rasch wachsenden Bioökonomie, in der die Kohlenstoffchemie die Grenzen zwischen Natur- und Kunststoffen immer mehr verschwimmen lässt. Bisher ist das Problem, dass Synthia, wie synthetisch die Herstellung auch gewesen sein mag, ein Lebewesen und kein Chip oder Datenstick ist. Das Leben ist instabil und braucht Nahrung und Pflege. Trotzdem gehe ich davon aus, dass viele von Venters Visionen Wirklichkeit werden können, wenn auch nicht in einem Zeitrahmen, der es uns erlaubt, uns entspannt zurückzulehnen und auf baldige Rettung zu vertrauen. Tatsächlich ist es alles andere als trivial, die geniale Fähigkeit der Pflanzen zu kopieren, Sonnenlicht in Energie in essbarer Form umzusetzen. Die gesamte Biofabrik findet Platz in den mikroskopisch kleinen Chloroplasten, und der Prozess ist beinahe so alt wie das Leben selbst. Trotzdem