C -Die vielen Leben des Kohlenstoffs. Dag Olav Hessen
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Kohlenstoff auf Rädern
Als die Sonne den Morgennebel nach einer verregneten Nacht vertrieb, ruderte ich auf »meinen« See hinaus um die Flaschen mit braunem, kohlenstoffhaltigem Seewasser herauszuholen, dem radioaktiver Kohlenstoff zugesetzt worden war, um die Photosynthese der Algen zu messen. Während die Algen beschäftigt waren, schlugen wir das Wasser von der Plane und packten unsere Mikroskope und den anderen experimentellen Krimskrams aus unserem provisorischen Labor zwischen den Nadelbäumen zusammen. Dann holte ich die Flaschen. Sie sind aus Quarz, der Rest ist aus Plastik oder Bakelit, den Früchten der Polymerchemie. Wir stapelten alles in Pappkartons – die auch aus Polymeren in Form von Zellulose bestehen. Diese Kartons wiederum stellten wir in den Kofferraum des heruntergekommenen universitätseigenen Volkswagens Caravelle – und was wäre dieses Auto ohne Kohlenstoffe und Polymerchemie?
Im Jahre 2010 überschritt die Anzahl der Autos auf unserem Planeten eine Milliarde; jedes Jahr werden 60 Millionen neue produziert. Vor hundert Jahren gab es kaum Autos, auch wenn Henry Ford bereits im Jahre 1905 mit der Herstellung seines legendären T-Ford begonnen hatte.29 Ein mit Dampf betriebener Wagen erblickte bereits im Jahre 1769 das Licht der Welt, doch es blieb beim Prototyp. Auch dessen Nachfolger kamen nicht besonders weit. Ein Wasserstoffauto rollte seine Page 60ersten Meter im Jahre 1807, aber niemand entwickelte die Idee weiter. Der Stammvater der Evolution des modernen Autos war vielleicht der Viertaktmotor von Nikolaus Otto oder Karl Benz’ Dreitaktmotor. Beide basieren auf der Umwandlung von Kohlenwasserstoffen in mechanische Energie durch Verbrennung. Essenziell für das Auto ist Benzin – oder Diesel, der von Rudolf Diesel in seinem ersten Viertaktmotor verwendet wurde.
Das Rad ist ohne Frage eine zentrale Komponente jedes Fahrzeugs, und plötzlich wurde dieses Rad neu erfunden.30 Das heißt: Nachdem das kompakte Holzrad vor zirka 4.000 Jahren seine erste Runde drehte (und die Leute es auch davor sicherlich wie die alten Pyramidenbauer gehandhabt hatten, die tonnenweise Steine über runde Holzstämme rollen ließen), folgten das deutlich leichtere Rad mit Speichen und das metallbeschlagene Rad, bevor das Gummirad Ende des 19. Jahrhunderts übernahm. Eine Fahrt mit dem ersten kompakten Gummirad muss sich noch angefühlt haben, wie mit einem Gummiball übers Holz zu rollen – sicher eine wenig bequeme Reise auf den holprigen Wegen der damaligen Zeit. Ende der 1880er Jahre wurde das aufblasbare Gummirad entwickelt. Beim Wettrennen um seine Erfindung kamen der Brite John Dunlop und die französischen Michelin-Brüder zeitgleich über die Ziellinie. In beiden Fällen war ein Fahrrad involviert: Bei John Dunlop handelte es sich um das Dreirad seines Sohnes, das mit aufblasbaren Reifen bezogen wurde, während in Frankreich »natürlich« ein Radrennfahrer mitten im Geschehen stand. Eduard Michelin entwickelte den ersten austauschbaren Fahrradreifen, der kurz darauf in Massenproduktion ging. Der Prototyp saß angeblich am Rad, das das erste Rennen Paris-Brest-Paris im Jahre 1891 gewann, 12 Jahre vor der ersten Tour de France.
Ob nun Dunlop oder Michelin – der mit Luft gefüllte Page 61Reifen war eine Erleichterung für Reisende auf allen Landstraßen, ob sie sich nun mit Autos oder Fahrrädern fortbewegten, ganz zu schweigen vom Pferdefuhrwerk, das zu jener Zeit immer noch das bevorzugte Fahrzeug war. Gummi soll hier unser Stichwort sein, und synthetischer Gummi enthält verschiedene Polymere aus auf Petroleum basierenden Monomeren, die zu langen elastischen Ketten verknüpft werden.
Ein Autoreifen enthält überdies noch mehr reinen Kohlenstoff in Form von Ruß. Jedes Jahr werden bei der unvollständigen Verbrennung von Kohle und Petroleumprodukten mehr als 8 Millionen Tonnen Ruß produziert – 70 Prozent davon landet in Autoreifen, die wiederum zu zwei Dritteln aus Ruß bestehen. Der Ruß in den Reifen ist für ihre Farbe und ihre Strapazierfähigkeit verantwortlich. Ruß, auch als Black carbon bekannt, wird auch in anderen Bereichen als Pigment verwendet. Batteriekomponenten, Plastikkarosserien und Interieur-Gegenstände werden ebenfalls aus Materialien hergestellt, in denen C eine zentrale Rolle spielt.
Als Henry Ford die Massenproduktion seines Ford-Modells aufnahm, kam niemand auf den Gedanken, dass der damalige Inbegriff des menschlichen Fortschritts und der Freiheit eine dunkle Seite haben sollte. Diese Seite ist uns nun bekannt, und abgesehen von Staus, Unfällen und größerer Nachfrage an Asphalt ist vor allem das Restprodukt der Verbrennung, das CO2, das Problem. Das »Michelin-Männchen« ist nicht nur das Symbol eines Reifenherstellers, sondern auch das eines übergewichtigen Menschen mit all seinen Schwimmringen – der zweifelhafte Dank gebührt einer unheiligen Kombination aus Unmengen von falschem C und dem Umstand, dass das Auto es uns ermöglichte, sich zu bewegen und dabei die Energieverbrennung vom eigenen Körper auf das Benzin zu übertragen.
Und apropos »falsches« C – Synthetischen Gummi Page 62kennen wir auch in Form von Weingummi, Gummibärchen, sauren Apfelringen und anderen Süßigkeiten. Sie alle enthalten jede Menge Kohlenstoffchemie und Süßstoffe wie Glycerin (C3H8O3) oder Zuckeralkohole (die wohlgemerkt nicht betrunken machen, sondern höchstens einen Zuckerschock auslösen können) wie beispielsweise Sorbit (C6H14O6) und dessen Verwandte Mannit, Lactit, Xylit und andere. Ihre Struktur ähnelt der des gewöhnlichen Zuckers (C6H12O6), sie zeichnen sich jedoch durch eine intensivere Süße aus. Dabei haben sie denselben Energiegehalt wie gewöhnlicher Zucker. Süßstoffe wie Cyclamat und Aspartam (die beispielsweise in Limonade vorkommen) hingegen sind energieärmer als gewöhnlicher Zucker, aber ebenfalls um Größenordnungen süßer. Ob diese »süßen Früchte« der Kohlenstoffchemie wegen ihres synthetischen Charakters schädlicher als Zucker sind – darüber lässt sich streiten. Einen Michelin-Stern haben sie jedenfalls nicht verdient.
29Die Geschichte des Autos ist ein integrierter Bestandteil der neueren Geschichte des Kohlenstoffs, vor allem weil Autos zum Großteil für die Umwandlung fossilen Kohlenstoffs in CO2 verantwortlich sind, aber auch, weil die Automobilindustrie den Fortschritt der synthetischen Kohlenstoffchemie angekurbelt hat – hier sei nur an den Reifen zu denken. Die Geschichte des Autos wurde in unzähligen Werken wiedergegeben, beispielsweise hier: Glancey, J. (2013): The car. The history of the automobile. Carlton Books.
30Locke, I. (1995): The wheel and how it changed the world. Amazon.
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Plastic fantastic
Unsere Kultur basierte lange auf dem Kohlenstoff in Holz und Stein, bevor das Eisen die erste Stelle einnahm. Danach kam die Plastikgesellschaft. Plastik besteht wie Nylon, Gummi und viele andere Stoffe, die wir als Kunststoffe zusammenfassen, aus C-Polymeren. Dem Plastik sind in der Regel aber verschiedene Additive zugesetzt. Plastik war – als es mit Macht sowohl auf den industriellen als auch den Haushaltsmarkt drängte – ein Sinnbild des Fortschritts. Die alten, schweren Holzwerkzeuge wurden ausgemustert, denn mit Plastik war alles leichter. Seither dominiert das Plastik in einer Weise unseren Alltag, wie es selbst die visionärsten Polymerpioniere nicht erwartet hätten.
Schon 1908 wurde das gehärtete Plastikmaterial Bakelit entwickelt, benannt nach seinem Erfinder Leo Baekeland. In den 1930er Jahren bekam das Bakelit Konkurrenz durch andere synthetische Plastikarten wie Polyethylen, Polystyren, Polyvinylchlorid – und eben Nylon. Das alles war aber erst der Anfang: Das Plastik fand seinen Weg nicht nur in die Küchenschubladen aller Haushalte, sondern wurde fortan auch für Isolationsmaterial, Schläuche, Flaschen, Brillen, Möbel, Bodenbeläge, Spiele, Kleider und noch vieles mehr genutzt. Plastik war der Inbegriff der Modernität, der Beweis dafür, dass die Welt sich weiterentwickelte. Das Öl, das Plastik, ja die gesamte organische Chemie zeigten, wie der Mensch mit seinem Wissen den Erfindungsreichtum der Natur kopieren konnte, besonders, was die Verwendung von Kohlenstoff anging.
Die Begeisterung für diese Modernität flaute in den 1970er Jahren etwas ab, als bekannt wurde, dass diese Entwicklung auch eine Kehrseite hatte. Das Plastik