Das Abseits als sicherer Ort. Peter Brückner
E-Book-Ausgabe 2020
© 1980, 2019 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer privaten Fotografie. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN: 978 3 8031 4304 4
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2815 7
Vorwort
Daß die beiden »Rätsel von Geschichte und Lebensgeschichte« ineinander verschlungen seien, ja daß es sich um ein einziges Rätsel mit einem individuellen Gesicht und einem historischen Wurzelwerk handele – das war die Überzeugung Peter Brückners, war Motiv und Motto aller seiner Arbeiten. Als Psychologe war er immer Historiker und Soziograph, als Analytiker gesellschaftlicher Zustände blieb er Seelenkundler. Diese enorme Spannung zwischen zwei Gegenständen der Forschung und Erkenntnis: Geschichte und Biographie, Gesellschaft und Individuum, Struktur und Ich macht die Faszination und – in Teilen – Schwerverständlichkeit seines Werkes aus. Es handelt sich ja um eine Spannung, die praktisch immer wieder durchreißt, die förmlich Züge einer Konstruktion hat, einer theoretischen ideé fixe, einer heuristischen Formel, deren Tauglichkeit, Zusammenhänge zu erhellen, erst aufzuweisen wäre. Wer von uns ist schon in der Lage, das »Rätsel seiner Lebensgeschichte« so auf Geschichte und Gesellschaft zu projizieren, daß sich auch nur eine sinnvolle Aufgabenstellung ergibt – von einer Lösung zu schweigen. Steckt da nicht etwas Verzweifeltes in diesem Festhalten an der Konvergenz von Ich und Welt, von Vita und Historie, das mehr über das Verlangen nach Sinn und Deutung dessen verrät, der da so verzweifelt festhält? Oder ist umgekehrt der Verzicht auf ›Spannung‹, das Sich-Bescheiden mit den disparaten, verlorenen, vereinzelten Gegenständen unserer Interessen, ist diese heute vorherrschende Spezialisierung in der Wissenschaft, aber auch in den Künsten und Medien, vielleicht eine vorschnelle und bedauernswerte Kapitulation vor den Ansprüchen einer möglicherweise fruchtbareren, aber nur schwer auszuhaltenden, mühevollen, kräftezehrenden Mehrdimensionalität? Vor einem beidhändigen Zugriff sozusagen, der sich mit dem Vereinzelten so wenig zufrieden gibt wie mit dem großen Ganzen, weil er weiß, daß das eine sich nur im anderen bewegt und das andere nur war und wird, was viele einzelne aus ihm machen?
Peter Brückner war studierter Psychologe und gelernter Psychoanalytiker, er hat nur kurze Zeit in seinem Leben als Therapeut praktiziert, trotz seiner großen Talente in dieser Disziplin. Was ihn stärker faszinierte als die einzelne Stimme, war das Konzert der historischen Bedingungen, waren auch die stummen Signale der bloßen Möglichkeiten, war das Zugleich von Solist und Orchester, der große Akkord sozusagen. Die Therapie konnte diese Neugier nicht befriedigen. Also ging Peter Brückner an die Hochschule. Er nahm einen Ruf der TU Hannover an und lehrte dort Psychologie; in seinen letzten Jahren bemühte er sich, zusätzlich die Venia legendi für Soziologie oder Politische Wissenschaften zu erlangen, was aber nicht glückte. Das Studium von Lebensgeschichten wollte er auch als Professor mit dem Studium von Geschichte verbinden, er wollte eine Qualifikation nicht nur für das Lesen in der Seele, sondern auch für das Lesen im Buch der Gesellschaft vorweisen können. Was sich institutionell dann nicht durchsetzen ließ, hat er als Autor und Lehrer auf eigene Faust probiert: die Psyche war für ihn in seinen Vorlesungen und Analysen immer auch Politikum und das politische Leben nie frei von subjektiven Impulsen. Er hielt an der ›Spannung‹ fest und hielt sie in sich aus – seine Autobiographie der Jahre 1923 bis 1945, Das Abseits als sicherer Ort, ist dafür ein sprechender Beleg.
Sie spricht vor allem in den ersten drei Kapiteln sehr deutlich von der Anstrengung, die es kostet, »das Rätsel der Geschichte« mit dem der Lebensgeschichte so zu verknüpfen, daß eins sich aus dem anderen auch dann herauslesen läßt, wenn das Ergebnis schaudern macht. »Eine Jugend im Faschismus«, hat Peter Brückner gesagt, »bleibt immer eine Jugend.« Aber sie bietet dem Heranwachsenden ihren eigentümlichen Entwicklungsreiz: den Schrecken. Seine Abwehrschlachten gegen die mehr oder weniger subtilen Versuche von Faschisierung, welche die Kinderjahre prägten, haben Brückner ein unstillbares Mißtrauen gegen alle Formen von Herrschaft mitgegeben. Als er jung war, durfte er nicht einmal den eigenen kindlichen Freuden am Wandern und Wichtigtun trauen; als er älter war, blieb Beobachtung und Selbstbeobachtung im Sinne eines experto credite sein Los. Er hat den Deutschen nie weniger als das Schlimmste zugetraut.
Man weiß, daß Peter Brückner zu jenen Hochschullehrern zählte, die der Studentenbewegung 1967 ff. nicht nur mit Sympathie zur Seite standen, sondern ihr mit ungeteilter Zustimmung folgten bzw. voranschritten. Brückner hatte ein spontanes Verständnis für die Fundamentalkritik der jungen Generation; in ihr wurden, fand er, jene radikalen Versuche eines Neuanfangs noch einmal lebendig, die nach 1945 von vielen erwartet, dann aber doch nicht unternommen worden waren. Daß nicht nur die Universität, sondern die Gesellschaft insgesamt: ihre Politik, ihre Moral, ihre Lebensformen zu erneuern seien, schien ihm völlig plausibel, und die Attacken der Studenten gegen die Ordinarienherrschaft, den Vietnamkrieg, die Restauration einer NS-belasteten Elite sowie den unerträglichen Spießer-Muff in Familien und Öffentlichkeit – all das fand er nicht nur gerechtfertigt, sondern unbedingt notwendig. Er hatte es lange erhofft und fühlte sich, als es in den 60er Jahren endlich so weit war, ganz in seinem Element: dem der theoretischen Kritik, des praktischen Experiments und des offenen Streits. Aber was ihn vor allem überzeugte, war dies: die Studenten der antiautoritären Ära protestierten nicht nur gegen die Ausplünderung der Dritten Welt durch die Erste, sondern auch gegen doppelte Moral in Sachen Sex. Sie verurteilten nicht nur illiberale Tendenzen in der deutschen Nachkriegsdemokratie, sondern auch Erziehungsgrundsätze, die fraglosen Gehorsam propagierten. Sie forderten nicht nur Mitbestimmung in allen Betrieben und Institutionen, sondern auch Wohngemeinschaften für Jugendliche und legalize pot. Sie wollten nicht nur Geschichte begreifen, sondern selbst eingreifen, nicht nur analysieren, sondern verändern, nicht nur wissen, welche die Bedingungen ihres Handelns seien, sondern auf diese Bedingungen wirken, das heißt handeln und zwar jetzt: Do it now! Sie wollten nicht mehr nur ein Schicksal haben, sondern sich eins machen. Mit einem Wort: die Spannung zwischen Vielheit und Einzelheit, zwischen Zeit und Augenblick, Welt und Mensch, Geschichte und Lebensgeschichte, sie war wieder da, sie war sogar, in den gloriosen Monaten der Jahre 1967/68, alles andere als anstrengend oder zermürbend, sie war plötzlich etwas ganz Leichtes und Wunderbares, war ein Medium von public happiness. Der Einzelne war nicht mehr zur Passivität verdammt, weil Teil eines Ganzen, an dem sich rütteln ließ, und das Ganze nicht notwendig das Falsche, weil gestaltbar von vielen aktiven Einzelnen. Das Abseits wurde zum weiten Feld und dadurch auf eine erregende Weise unsicher, die Rebellion wurde Klima und damit allgemein. Die Zeit des Studentenprotests gab Peter Brückner endlich nach vielen Jahren der nur punktuellen oder vergeblichen Kritik an einem bedrückenden, aber übermächtigen Status quo ein neues, ermutigendes Umfeld für die Betätigung seines aufrührerischen, unbescheidenen, spannungserprobten Geistes. Er nutzte sie weidlich.
Die späten 60er und 70er Jahre, das war eine Zeit der Renaissance des Marxismus, die damals die Terminologie des Protests nachhaltig färbte. Wenn man das weiß, wundert man sich nicht mehr so sehr über einige Wortungetüme, die der sonst so lebhaften und farbigen Prosa des »Abseits«-Buches immer wieder eine fast apokryphe Schwere verleihen. Wie selbstverständlich finden sich großmächtige Kategorien wie »Objektivität« – und dann auch noch: »Überhang an Objektivität« –, »Abstraktion« – und dann auch noch: »behütende Abstraktion« –, »Affirmation«, »Subsumtion« in einem Text, der eine Kindheit schildert und von nächtlichen Ausreißereien, Ängsten, Spielen und typischen Rätseln der biographischen Frühzeit berichtet. Diese scheinbar deplazierten analytischen Begriffe – sie alle stammen aus der Marxismus-Diskussion dieser Jahre – haben sich aber nicht zufällig in die Beschreibung einer Jugend im Faschismus verirrt, sie dienen, so unanschaulich und