Das Abseits als sicherer Ort. Peter Brückner

Das Abseits als sicherer Ort - Peter Brückner


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Vater kam und gab bei der Jugendfürsorge zu Protokoll, daß er ein Internat für mich gefunden habe. Ich wußte nicht, daß zu der Suche danach auch der Entschluß meiner Mutter beigetragen hatte, sobald als möglich zu emigrieren.

      Im Frühjahr 1936 verließ ich Dresden, aufgenommen in eine Oberschule mit Schülerheim in Zwickau, einer kleinen Bergwerks- und Industriestadt in Westsachsen. Wenige Monate später kehrte meine Mutter für immer nach England zurück. Auf ihrer Frisierkommode stand noch jahrelang ein kleiner Bilderrahmen ohne Bild – er hatte früher eine in Kunstschrift gehaltene Karte mit ihrem Goethe’schen Lieblingsspruch enthalten:

      »Feiger Gedanken / Bängliches Schwanken

      Weibisches Zagen / Ängstliches Klagen

      Wendet kein Elend / Macht dich nicht frei.

      Allen Gewalten / Zum Trutz sich erhalten

      Nimmer sich beugen / Kräftig sich zeigen

      Rufet die Arme / Der Götter herbei«

      Die Bedingungen, unter denen ich meine Mutter fast zwölf Jahre später wiedersah, sind für den Geist der Zeit, das heißt für den transzendentalen Rahmen unser aller Existenz bezeichnend: es waren Bedingungen der Illegalität. Ich lag 1946, inzwischen Mitglied der KPD, in einem Leipziger Krankenhaus, also in der sowjetisch besetzten Zone, SBZ. Meine Mutter kam im gleichen Jahre, als senior officer einer halbmilitärischen Organisation, mit der britischen Besatzungsmacht nach Deutschland zurück. Freunde in der Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der SBZ schleusten sie mit gefälschten Dokumenten und ohne Wissen auch der britischen Dienststellen über die Zonengrenze ein, via Berlin.

      1965 – sie hatte inzwischen einige Jahre in Schweden, danach erneut in London gelebt – besuchte sie mich, 77 Jahre alt, in Heidelberg. Fassungslos stand sie vor meinen Büchern: »Wie willst du das alles mitnehmen, wenn du mal weg mußt?« Ihr Besitz bestand noch immer aus zwei großen Koffern.

      Nicht nur das Familien- und Schulverhältnis änderte sich in den ersten Jahren des NS-Staats, auch die »organisierten Außenbeziehungen«, mein Verhältnis zu den kollektiven Einrichtungen für kindliche Tätigkeit durchliefen einen Wandel.

      1931, neun Jahre alt, war ich den Pfadfindern beigetreten, aber in den Probemonaten gewogen und als zu leicht befunden worden. Die Eltern erhielten einen Brief: Ich sei nicht ausdauernd, nicht leistungsbereit – eine Frage der Moral, nicht der körperlichen Konstitution; außerdem leider nicht offen und ehrlich. Kein richtiger deutscher Junge demnach (aber das stand nicht wörtlich in dem Brief). Gewiß: »Üb’ immer Treu’ und Redlichkeit«, das war nicht das Lied, das ich sang. Man muß kein Philosoph, man darf auch ein Kind sein, um zu bemerken, daß »Offenheit« in der pädagogischen Landschaft bedeutet, sich für den Zugriff der Macht zu öffnen. Wer sich verschließt, wer verstummt, gar lügt, sabotiert die allseitige Kontrolle des seelischen Materials, die nicht nur in der Ära des Nationalsozialismus das Geheimnis der mittelständischen Erziehung war.

      Ein Jahr später sah ich bei einsamen Streifzügen in der Dresdner Heide mit Neid auf die »Falken« mit ihrem blauen Halstuch, eine Jugendorganisation der SPD, und mit einer Mischung aus Faszination und Angst auf singende und marschierende Gruppen der HJ, die sehr wenig Pfadfinderisches hatten. Doch im schönen Sommer 1933 lief ich begeistert zum Elbufer und schloß mich dem Jungvolk an, stolz auf Trommel, Fahne und Führertum. Im Herbst saß ich schon wieder zu Hause – gewogen und zu leicht befunden? Aus eigenem Entschluß? – und trieb mich allein in der Stadt herum.

      Ich hatte einen Freund: Mit seinem Luftgewehr stiegen wir auf den Oberboden der Mietskaserne, in der er wohnte, und schossen aus einer winzigen Dachluke auf Tauben. Das flache Dach der Technischen Hochschule gegenüber beherbergte Brutkästen für wer weiß welches Experiment. Tauben, das waren feindliche Flugzeuge. Manchmal waren wir Rotarmisten und sangen: »Und höher, und höher, und höh-eer / ein jeder Propeller schreit surrend ›Rot Front‹! / Wir sind die Schützer der Sowjetunion.« In einem Holzkästchen bewahrte ich unseren Schatz auf: ein kleines silbernes Abzeichen der Hoheitsträger der NSDAP, den Reichsadler auf dem umkränzten Hakenkreuz (das Nädelchen zum Anstecken war abgebrochen), und einen glasierten Sowjetstern, rot, mit goldenem Hammer und Sichel.2

      Dieser Freund war der Sohn des Fleischers an der Ecke und besuchte die Oberrealschule, die ich hatte verlassen müssen. In der Volksschule fand ich für ein paar Monate Kontakt zu einem kleinen jüdischen Jungen der Volksschulklasse. Er nahm mich mit zu seinen Eltern, orthodoxe Juden, die in einem jüdischen Sträßchen in der Altstadt wohnten; der Vater – mit schwarzem Käppchen und rituellen Locken – war Tischler. Im Haus roch es, wie es eben bei armen Leuten riecht. Manches war mir unangenehm, ohne daß ich noch zu sagen wüßte, warum.

      Den Nichtorganisierten wurde samstags in der Volksschule Spezialunterricht erteilt, von HJ-Führern oder von Lehrern in SA-Uniform. Ob dies mir nun als das größere Übel erschien oder ob ich endlich als das anerkannt werden wollte, was ich doch war: als deutscher Junge jedenfalls trug ich im Frühjahr 1934 erneut das Braunhemd und hatte »Dienst«.

      Die Infamie des Faschismus war in diesen Jahren noch nicht bürokratisiert, Individuen durften noch zerstörerisch sein auf eigene Faust. An einem Sonntagmorgen führte uns so ein siebzehnjähriger Condottiere, unser Scharführer, an Kirchen vorbei: Dort werde gegen Führer und Volk gepredigt. Besucht jemand den Gottesdienst? Dann soll er sich merken, was der Pfarrer sagt, und es ihm berichten; er werde es weiterleiten an die Gestapo. Er führte uns sogar ein anderes Mal zu einer Gestapo-Leitstelle, wo er jemanden kannte. Das alles war faszinierend, aber beängstigend, fesselnd, aber fremd; es stieß ab und erfüllte doch mit einem untergründigen Herzklopfen von Befriedigung. Allein daß am Sonntagmorgen »Dienst« angesetzt war, suggerierte Aufruhr: ein épater le bourgeois, gegen den langweiligen Feiertag, gegen die Kirche, gegen Ordnung gerichtet. (Das wurde übrigens bald verboten: die Ordnung kehrte zurück, das heißt, der Terror wurde arbeitsteilig organisiert, und antiautoritäre Gesten waren unerwünscht.)

      Ich erzählte meinem Vater an einem unserer Wochenenden davon, und er verwickelte mich – für viele Monate – in kaum endende Gespräche: über Gott, Kirche, Freimaurerei (er war Atheist, zumindest neukantianisch: ignorabimus), über Wirtschaft und Staat. Die Wirtschaft als neue Monarchie, der »Untertan« müsse aber Bürger werden, der Arbeiter und Angestellte mitbestimmen; bei dieser Gelegenheit erfuhr ich etwas Verläßliches über Streiks. (Seine »konstitutionellen« Ideen verdankte er Friedrich Naumann – ein Name, den er oft genannt hat, wie auch den von Friedrich List.) Bei unseren Spaziergängen gab der »Damaschkeweg« Anlaß zu Bemerkungen über das Eigentum an Grund und Boden, über Arbeitersiedlungen und über Bodenreform. Wir sprachen auch über Denunziation und neuere Geschichte. Schließlich hielten die neuen Führer Zwölfjährige für reif genug, »politisch« zu sein, sollte er von seinem Zwölfjährigen schlechter denken? Er besorgte mir die Geschichte unserer Welt von H.G. Wells; ein kleines, verbotenes Buch über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, einen Roman von Upton Sinclair und ein gleichfalls verbotenes Buch mit Reportagen. Das begann mit rührenden Berichten von Charles Dickens und endete, glaube ich, mit Notizen von Egon Erwin Kisch (oder von Sling, dem Gerichtsreporter der Weimarer Zeit).

      Im Laufe weniger Monate erloschen meine Beziehungen zum Jungvolk erneut – sie »erloschen« wirklich, erlahmten, schwanden dahin. Es war da von meiner Seite kein spektakulärer Akt im Spiel, etwa ein formeller Austritt. Ich fing einfach an, die »Kameraden«, die Organisation, die Führer zu meiden; suchte Plätze auf, wo ich sicher sein konnte: da waren sie nicht, verlegte meine wieder einsamen Streifzüge ins Abseits, wo ich für »mein« Fähnlein und es für mich unsichtbar war.

      Bis wir uns schließlich aus den Augen verloren hatten. Diese zwar nicht erkämpfte, aber doch nicht ohne List selbsttätig herbeigeführte Einsamkeit enthielt eine Glückserfahrung, die mich allen Gefühlen von Vereinzelung enthob: Es gibt immer Orte zu finden, die leer von Macht sind. Die institutionelle Umklammerung des Lebens ist zu Anteilen Schein.

      Bei meinen Wegen in das Antiquariatsviertel der Altstadt zog mich eines Tages der Lärm eines öffentlichen Ereignisses zum Rathausplatz; hohe SA-Führer (im Juni 1934 dann zum Teil erschossen) eilten in schwarzen


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