Gehen. Tomas Espedal

Gehen - Tomas Espedal


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den Tod auf.

      Hebe die Bürde von meinen Schultern und lege den Tod ab.

      Meine Mutter und Agnete, beide lege ich mit diesem Rehkitz ab.

      Ich lege es auf der Seite ins Gras und verlasse es. Gehe die Hänge zu den Bauernhöfen hinunter und beschließe, an die erstbeste Tür zu klopfen und um ein Glas Wasser zu bitten.

      15

      Es wird dunkel. Ich muss einen Platz zum Schlafen finden. Ich verlasse Grøsvil und gelange zu einem eigentümlichen Kreuzungspunkt zwischen vier Fjorden: Osterfjord, Romarheimsfjord, Eidsfjord und Veafjord. Man hat das Gefühl, eine Zone zu betreten, eine Region mit einer ganz eigenen Kraft, in der das Wasser stärker ist als alles andere; mächtiger als die Berge, kraftvoller als der Wald, älter als das Gras; stiller als die Straße und die Häuser, die am Wasser stehen. Die langen, dünnen Arme der Fjorde sind stärker als das Festland, sie sind es, die alles, was es an Freiheit und Träumen gab, in die eingeschlossenen Ortschaften des Tals getragen haben. Es ist eine Stille und Kraft in dieser Wasserzone, die mich daran denken lässt, wie natürlich es ist, dass es Märchen gibt, dass man tatsächlich an die Geschichten in der Bibel glaubt. Kämpfte Jakob an einem Ort wie diesem mit den Engeln? War es nicht ein ganz ähnlicher Ort, an dem Noahs Arche zwischen den Bergen heransegelte, um einen hohen, festen Punkt in einer Welt zu finden, die flüssig geworden war? Dieser, an dem sich die Fjorde begegnen, strahlt eine Kraft und ein Licht aus; es ist, als könnte ich sicher sein, hier etwas zu erblicken, was ich nie zuvor gesehen habe.

      Was sollte das wohl sein?

      Ein Engel? Ein Einhorn? Eine Seeschlange? Das Einzige, was mir ins Auge fällt, ist ein Frachtschiff, das in den Fjord gleitet. Es begleitet mich ein Stück meines Wegs, treibt still und beunruhigend neben mir, der ich am Fjord entlanggehe. Ja, hier haben wir mein urzeitliches Ungeheuer, es leuchtet in der Dunkelheit, atmet im Wasser, pocht und schlägt wie ein Herz. Es beginnt zu regnen. Der Regen schlägt auf die Wasseroberfläche, auf den Asphalt, verwischt die dünne Trennlinie zwischen Wasser und Land. Der Himmel ist grau. Die Berge sind grau. Bald wird alles schwarz sein. Ich folge den Lichtern des Schiffs, überquere die Brücke zum Festland und sehe, als ich Stamnes erreiche, dass der Frachter am Kai angelegt hat. Die kleine Pension ist ausgebucht, ich habe keinen Schlafplatz. Ich bin nass und friere. Bin hungrig und durstig. Gehe zum Kai hinunter, rufe zu dem Schiff und zur Brücke hinauf, woraufhin eine Frau und zwei Männer auf Deck hinaustreten. Ich frage, ob ich irgendwo im Schiff schlafen könne. Egal wo. Nein, das könne ich nicht. Die drei wollen gerade von Bord gehen. Aber sie haben ein Auto auf dem Kai und wollen nach Modalen fahren, ich kann mitkommen. Ich sage Ja zu Modalen, es liegt in der von mir angepeilten Richtung, ich bin auf dem Weg in die Berge und zum Hochplateau Stølsheimen.

      In Modalen geschieht dann, was sonst nur in Märchen geschieht. Als ich die hintere Autotür öffne und aussteige, sehe ich ein vierköpfiges Fabelwesen auf mich zukommen. Drei seiner Häupter sind mir bekannt, es sind Tore und Hildegunn sowie Hildegunns Schwester Elisabeth, in Begleitung jenes Mannes, der sich D.J. Modalen nennt. Welch zufällige Begegnung; rein zufällig, falls es so etwas wie Zufall gibt, sind sie auf dem Weg zum Pier und zum Hafenspeicher, um dort ein Bier zu trinken. Ob ich mitkommen wolle? Und was ich hier mache? Und ob ich einen Platz zum Schlafen suchte? Ja und ja und ich bin unterwegs zum Sunnfjord. Zu Fuß? Ja. Es schneit in den Bergen, willst du in dem Anzug da wandern? Ja. So so. Willst du ein Bier? Ich will zwei.

      Wir sitzen in einer Ecke am Fenster und trinken Bier. Der Regen schlägt gegen die Scheibe; die lange, enge Fjordöffnung wird von der Dunkelheit ausgeschlossen und verschwindet mit den Bergen. Die Finsternis ist allumfassend und wiegt schwer, man kann sich nur mit Mühe vorstellen, dass sie sich je wieder vertreiben lassen wird, dass der schwache Tag, das zögernde Licht sie fortnehmen wird. Wir sitzen unter dem Licht der Tischlampen. Hildegunn Dale und ihre Freunde sind wegen eines Seminars über den Dichter Olav Nygard daheim in Modalen. Asbjørn Aarnes ist hier. Eirik Vassenden ist hier. Yngve Pedersen. Øyvind Ådland. Wir unterhalten uns über Olav Nygard und seine Gedichte. Und während wir reden und trinken, ist es, als löste das kleine Lokal, in dem wir sitzen, die unsichtbaren dünnen Fesseln, die es an Stein und Pier gekettet haben, so dass wir unmerklich auf den schmalen Fjord hinaus treiben, zu einem größeren, einem wichtigeren Ort. Jetzt sitzen wir im Herzen der Ereignisse, und hätte Olav Nygard auf Englisch oder Deutsch geschrieben, so heißt es, wäre er eine international anerkannte Größe gewesen, ein bedeutender Dichter. Ja, das mag sein. Aber ist das Großartige an Olav Nygard nicht, dass er so wunderschön in seinem eigenen kleinen Dialekt geschrieben hat? Und dadurch ein kleiner, unbedeutender Dichter mit ungeheurer Wirkung bei den Wenigen geworden ist, die ihn lesen? Das Grandiose an Olav Nygard ist doch, dass er ein Dichter für ganz Wenige ist; und dass ihn kaum jemand liest, verleiht seinen Gedichten eine ganz eigene, geheimnisvolle Kraft, so als hätten sie die Stille und Unvernunft der ganzen Welt in sich versammelt. Sie sind auf die schwierigste Weise schön, ungesehen und unverstanden, ja, beinahe unberührt, weshalb sie nun, nach all der Zeit, die sie in der Stille begraben gelegen haben, allmählich der Natur gleichen, aus der sie stammen. Die Menschen sind an diesen Gedichten vorübergegangen, wie wir an einem Baum vorübergehen, ohne ihn wirklich zu sehen, ohne zu begreifen, woran wir vorübergegangen sind. Der Baum und das Gedicht haben die gleiche Botschaft: Wir müssen sehen lernen. Wir müssen lesen lernen. Und wenn wir Olav Nygard lesen, werden wir sehen, dass alles, wonach wir suchen, wonach wir uns sehnen, hier ist, ganz gleich, wo wir sind, direkt vor unseren Augen. Es verbirgt sich im Nahen, im Einfachen, in unserer nächsten Umgebung, im Alltäglichen, an dem wir vorübergehen.

      Wir reden. Wir trinken. Wir blasen uns auf, und je größer unsere Worte werden, desto kleiner wird das Lokal, in dem wir sitzen. Es schrumpft, nimmt seine ursprüngliche Größe wieder an und treibt an seinen angestammten Platz in dem eingeklemmten Tal zurück. Wir reden großspurig und laut, weshalb uns nicht entgehen kann, dass wir eingeschlossen in Modalen sitzen. Aber ich bin ganz und gar zufrieden damit, hier und nirgendwo anders zu sein. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als: mit Freunden um einen Tisch zu sitzen und Bier zu trinken.

      Ruhe zu finden. Zu rasten.

      Die Augen zu schließen, das beruhigende Sirren der Stimmen zu hören. Das Geräusch der Gläser. Der Geruch des Biers, der schwache Geruch des Tabaks, den Kopf behutsam auf die Schulter neben mir zu legen; zu denken, bald liegst du in einem Bett.

      Ich fand eine Ruhestatt, an welcher der Geist rastet

      und in einem ruhigen, mild murmelnden Wellengang

      zu traumhaften Ufern schreitet. Was soll denn noch eilen

      wenn die Ewigkeit ihr sanftes Wiegenlied anstimmt

      wie Echoträume; Jahre und Stunden werfen

      von breiten Schultern das enge Sklavenjoch

      und gleiten in einem sachten Rhythmus in den Tanz

      während die Sonne Silber auf den Lorbeer tropft.

      Es ist wie Lenz und Herbst im gleichen Hauch;

      silberbleicher Sonnenrauch blinzelt zwischen Bergen

      mit Frühjahrsbeben und Herbststille vermischt,

      mit frohen Hüpfern und mit Laub als Fell.

      Es spielt eine Saite mit Ach und Weh,

      eine Grabestrauer aus tiefer Seen Quellen auf;

      doch Sonnentagsfackeln schweben auf Strahlenschwingen

      und drängen siegesforsch wider die Schattentiefe.

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