Gehen. Tomas Espedal
Maschine. Als meine Mutter starb, drehte ich wirklich beinahe durch, ich flog nach London, nahm den Zug nach Swansea und ging zu Fuß nach Laugharne, wo ich mich im Brown Hotel auf einen Barhocker setzte, um mich in Grund und Boden zu trinken. Es war eine mythische Reise. Es war eine verzweifelte Reise. Auf der Beerdigung meiner Mutter hatte ich Dylan Thomas’ Gedicht Do not go gentle into that good night gelesen. Ein paar Tage später saß ich im Flugzeug; ich wusste nicht, was ich tun sollte. Aus reiner Verzweiflung ging ich in den Fußstapfen eines Dichters. Vom Krankenhaus führt ein Weg zum Skytterveien hinauf. Am Fußballplatz vorbei. An der alten Genossenschaft vorbei. Flache Wohnblöcke in zwei Reihen, ein Spielplatz, ohne Kinder. Geparkte Autos, frisch gemähtes Gras, Asphalt, Treppenaufgänge, Stille, es herrscht eine ganz eigene Stille zwischen diesen Mietskasernen. Eine schattenhafte Gestalt mit Stock, der Mann steigt die Treppe wie jemand hinauf, der seine Frau verloren hat, die Treppe zum Hochhaus, es ist der Hausmeister, er heißt Osberg, ich erkenne ihn. Er wohnt im fünften Stock, wir wohnten im elften, in der Wohnung, an deren Tür heute Familie Larsen steht. Joakim Larsen, der Vater von Rune, dem mit den Fernsehprogrammen. Rune Larsen ist mir als recht guter Boxer in Erinnerung geblieben, obwohl sein Vater besser war, jedenfalls behauptet das mein Vater, der ebenfalls Boxer war, allerdings nicht besser als sein Sohn, das habe ich schwarz auf weiß. Unter dem Hochhaus verläuft eine Unterführung zum Hinterhof, von dort aus führen Treppen am Heizungskeller und an den Wäscheleinen vorbei zu dem steilen Hang, der sich am Jomfrudammen teilt. Der Weg führt wieder bergab zum Langevannet und folgt der alten Poststraße nach Åsane. Nur an zwei Punkten berührt dieser Weg die Verkehrsader, die sich bis in die Vorstadt zieht. Man geht über eine Brücke. Man passiert einen Bauernhof. Man denkt nicht besser, wenn man geht. Man denkt anders. Woran denke ich? Ich habe Hunger und muss mir etwas zu essen besorgen. In Åsane mache ich am Geschäftszentrum Halt, um einzukaufen. Ich besorge mir einen Rucksack, gute Bergstiefel, Toilettenartikel und eine Ausgabe von Julie oder die neue Héloïse; ich habe beschlossen, weit zu gehen.
7
O ja, warum nicht mit Rousseau, Jean-Jacques, beginnen, der in seinen Bekenntnissen schreibt: »Niemals habe ich so viel gedacht, nie bin ich von der Tatsache meines Daseins, meines Lebens und, wenn ich so sagen darf, meines Ichs so erfüllt gewesen als auf meinen einsamen Fußwanderungen. Das Gehen hat etwas, was meine Gedanken erregt und belebt; wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken, mein Körper muss gewissermaßen in Schwung geraten, um auch meinen Geist zum Schwingen zu bringen. Das freie Land, die Aufeinanderfolge so vieler freundlicher Anblicke, die frische Luft, der große Hunger und die Gesundheit, die ich mir stets beim Gehen erwerbe, die Ungezwungenheit des Gasthauses, die Entfernung alles dessen, was mich meine Abhängigkeit fühlen lässt und mich an meine wahre Lage erinnert, befreit meine Seele, verleiht mir eine größere Kühnheit des Denkens […].«
Rousseau ist nicht der Erste, der eine Verbindung zwischen Gehen und gutem Denken herstellt, aber er ist der erste bedeutende Autor, der darüber reflektiert, was es eigentlich heißt, zu gehen; er schreibt dem Gehen einen romantischen Wert zu: Man kommt der Natur näher; dem Ursprünglichen, und empfindet sogleich Wohlbehagen, ein reines Glücksgefühl, außerdem ist man frei. Der Gehende fühlt sich frei. Er kann seine Wege selbst wählen. Außerdem ist es gut für das Denken und die Gesundheit, sich zu Fuß fortzubewegen. Am besten gehen wir aus der Stadt heraus, ins Freie, aufs Land und in die Natur; das befreit die Gedanken und wirkt appetitanregend. Aber was sollen wir essen? Jean-Jacques war ein Freund und Fürsprecher der Natur, ein Vegetarier war er jedoch nicht. Wir finden ein Wirtshaus im Text und stellen uns eine wohlschmeckende Mahlzeit mit ausgesprochen köstlichen Getränken vor. Wir sind folglich nicht in der Gewalt der Natur, wir halten uns noch in einiger Entfernung zur Wildnis auf: Wir befinden uns mit anderen Worten an einem Ort dazwischen. Und dieses Dazwischen ist der Ort der Romantik. Wir haben einen hübschen Spaziergang aus der Stadt hinaus gemacht und sind noch ein ganzes Stück von der Wildnis, von unberührter Natur entfernt. Wir befinden uns an einem Ort zwischen der Stadt und ihrem Gegenpol, dem Wildwüchsigen. Hier ist der Mensch von der Forderung nach Wissen und Bildung befreit. Wir haben Theater und Museen und Kunst hinter uns gelassen, mit denen die Hässlichkeit des modernen Lebens überpudert wird. Doch wir sind nicht so weit entfernt, dass wir nicht mehr zur Wärme des heimischen Herds und den abendlichen Notizen zurückkehren können. Wir halten uns in einer Idylle auf, einer Landschaft, in der ein angenehmer Ausblick den nächsten ablöst. Wir können die Stadt nicht sehen. Wir haben Aussicht auf eine Kulturlandschaft mit Ackerbau und kleinen Bauernhöfen. Hier steht ein Wirtshaus, eine Kirche mit Glockenturm. »Absolute Stille indes«, schreibt Rousseau, »macht traurig. Sie bietet ein Bild des Todes.« Nein, wir können die Vögel und den Bach hören, der zwischen den Feldern in Gräben geleitet wird. Dort hinten grast eine Schafherde, und in passender Entfernung erblicken wir Pferde und Kühe. Am schönsten ist jedoch die Aussicht auf einen kleinen See, in dem das Boot des einsamen Wanderers liegt. Hier rudert er allein, mit einem Ruder hinaus, und liegt stundenlang rücklings auf dem Boden des Boots, bis er ekstatisch ausruft: »Oh, Natur! Oh, meine Geliebte!«
Jean-Jacques schwärmt für die Natur. Sie ist, wenn man so will, seine Geliebte. Er liebt die Natur wie eine Frau. Bei Rousseau ist die Natur in erster Linie eine Vorstellung. Sie ist sauber und unproblematisch, bereinigt von Konflikten und Schlacke. Natur ist bei Rousseau eine Vorstellung von einem besseren und ursprünglicheren Ort für die Menschen. Es scheint, als nähme Rousseau die Natur als eine Abwesenheit von Stadt wahr, von allem, was er verachtet: Diskussionen und Eitelkeit. Gesellschaftliches Leben und Kunst. Fort sind die Straßen und der Lärm, die Hetze und alles Falsche; die Krämer und Anwälte, die Journalisten und Künstler. Fort sind Industrie und Technologie. Hier in dieser Abwesenheit ist der Mensch natürlich: »Er durchstreift die Wälder, ohne Industrie, ohne Reden, ohne Heimstatt, ohne Krieg und Verbindungen. Er braucht die anderen nicht und hat auch nicht den Wunsch, ihnen zu schaden.«
Der Wanderer ist also, Rousseau zufolge, ein einfacher und friedlicher Mensch. Er ist frei. Er hat die Stadt zurückgelassen, Familie und Verpflichtungen verlassen, seiner Arbeit Lebewohl gesagt. Lebewohl der Verantwortung. Lebewohl dem Geld. Er hat Abschied genommen von seinen Freunden und der Geliebten, von Ambitionen und Zukunft. Er ist ein wahrer Rebell, doch nun hat er auch der Rebellion Lebewohl gesagt. Er wandert allein im Wald, ein Herumtreiber. Er geht die Wege, ohne allzu viele Habseligkeiten, er hat sich die Welt und ihre Möglichkeiten zu eigen gemacht. Was er benötigt, trägt er in einem Sack auf dem Rücken.
Jean-Jacques verlässt das Wirtshaus. Der rebellische Mann und Naturliebhaber ist einfach gekleidet, trägt ein langes hellbraunes Baumwollgewand über einer kurzen Hose mit langen Wollstrümpfen. Er trägt dünne, aber feste Schuhe. Er verlässt das Wirtshaus. Jetzt muss er sich entscheiden, ob er umkehren und heimgehen oder noch ein Stückchen weiter gehen soll. Jean-Jacques kehrt um, er will zu seinem Haus und zum Schreibtisch zurück. Sobald er daheim ist – es ist ein kleines Schlösschen, eine reiche Freundin hat es ihm überlassen –, setzt er sich an den Schreibtisch am Fenster. Hier schreibt er in den Träumereien eines einsamen Spaziergängers: »Ich plante also, die allgemeine Befindlichkeit meiner Seele in der jetzigen Situation zu beschreiben – der absonderlichsten wohl, die einem Sterblichen widerfahren kann –, und am besten, glaubte ich, gelänge mir dies, wenn ich getreulich die Träumereien protokollierte, die meine einsamen Spaziergänge beleben, kaum dass ich meinen Kopf gewähren und meine Gedanken sich völlig ohne Zwang und Steuerung entwickeln lasse. Nur in diesen Stunden der Einsamkeit, da ich Gelegenheit zum Nachsinnen habe und mich nichts ablenkt oder stört, bin ich ganz und gar ich selbst und gehöre mir allein; nur in diesen Stunden kann ich ehrlicherweise von mir behaupten zu sein, wie die Natur mich wollte.«
8
Voltaire schreibt über Rousseau: »Er scheint gewillt, auf allen vieren zu gehen.«
Zurück zur Natur? Der Naturzustand, ein Tier, nein, das ist nicht komisch, kein Scherz, es ist Ernst: Wir wollen hinab. Auf allen vieren gehen, auf den Hund kommen. Das Aufrechte vergessen, alles, was wir hochhalten, wir wollen hinab und nicht hinauf.
Es gibt in Åsane ein Lokal, eine sogenannte Spelunke, in der einfache Gerichte und billige Getränke serviert werden, vier Tische auf einem abgetretenen Parkettboden, Lampen, die eher verdunkeln als erhellen; es ist