Gehen. Tomas Espedal

Gehen - Tomas Espedal


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schlechteren Architektur geführt haben?

      Wie ist es möglich, dass man billigere Lösungen, schnellere Lösungen wählt, dass man mit so viel Geld baut und erschafft und so schlecht denkt? Gedanken dieser Art bedrängen einen, wenn man auf dem alten Postweg in Åsane geht.

      Ich will Briefe schreiben.

      Ich bin voll Abschieds.

      Ich gehe über die Hügelkuppen und zum Kreisgefängnis in Breistein hinunter; die hohen Mauern; ein Baum, der Schatten des Baums, der neben der Betonwand wächst. Zwei Pferde grasen vor der Mauer, als sollte uns all diese Freiheit außerhalb der Mauern, all diese Schönheit, davon künden, wie brutal es ist, auf der anderen Seite hinter Gittern zu sitzen.

      Ich gehe vorbei am Gefängnis und am Asylantenheim, einem Kindergarten, Gärten und Häusern, einem angeleinten Hund, einem Gewächshaus; Blumen in Reihen, ein Mann in seiner Garage, im Auto, ich erblicke hier nichts als Unfreiheit, wo immer ich gehe, vorbeigehe, schneller jetzt, ich folge der asphaltierten Straße bis zum Kai und der Fähre, die mich nach Valestrand übersetzen soll. Auf dem Kai ziehe ich mich aus und springe ins Meer. Schwimme. Ich sehe die Fähre in der Mitte des Fjords.

      14

      Lonevåg, ein Gasthaus, ganz schlicht; kleine Zimmer, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, so soll es sein, ein verlassenes Zimmer, das wieder verlassen wird. Ich setze den Rucksack ab, hole mein Notizbuch heraus und bringe den Streckenabschnitt zu Papier, den ich gegangen bin.

      Vor dem Fenster höre ich Lachen und Lärm, Festgeräusche. Jugendliche sitzen um einen Plastiktisch versammelt und trinken Bier. Wochenende. In ihren Lachanfällen schwingt ein ganz eigener Ton mit, ein scharfer Ton von Ungeduld und Zorn; jetzt kommt schon, Jungs, wir haben schulfrei, die Arbeit ist getan, wir wollen uns besaufen. Ich gehe die Treppe zur Terrasse mit den Plastiktischen und Sonnenschirmen hinunter. Setze mich an den einen Tisch. An dem anderen sitzen die jungen Leute, Jungen und Mädchen, sie trinken und rauchen, sitzen im Kreis und sind sich selbst genug. Ich missgönne ihnen nichts. Für einen Moment überkommt mich Sehnsucht, das Gefühl, etwas zu vermissen, ich weiß nicht, was ich vermisse. Ein Kreis, sie sitzen um den Tisch, und ich kann nicht anders, muss jeden Einzelnen von ihnen betrachten, Gesicht, Haare, Hände, Bewegungen, wie sie sich kleiden, so wie andere junge Leute auch, trotzdem ähneln sie niemandem. Die Sonne geht unter. Die Vögel haben ihren Schlafbaum gefunden. Ein Auto hält, jemand kommt, eine der jungen Frauen geht; gelber Pullover, blonde Haare, ein Kreuz um den Hals, Lederstiefeletten. Sie setzt sich in den Wagen. Und durch das hintere Seitenfenster schaut sie plötzlich zu mir hinüber.

      Am nächsten Morgen scheint die Sonne, das Licht bricht durch die Wolkendecke, fällt durch das Laub und den Baum vor dem Fenster, durch das Fenster, zwischen den Vorhängen hindurch, auf den Fußboden und in einem staubzersplitterten Strahl zum Bett und zu meinem Kissen, wo es mein Gesicht trifft. Die Sonne sickert wie ein Anfang durch meine Lider. Streifen aus Licht fallen in die Dunkelheit, die ein Traum ist, und die Bilder lösen sich auf. Das Licht wird Wasser, ich träume Wasser und treibe nach oben, durchstoße die Oberfläche, hebe den Kopf; es ist Tag. Ich wache auf. Bleibe im Bett liegen und treibe auf den letzten Resten des Traums; es ist der Anfang eines guten Tages.

      Ist heute der perfekte Tag?

      Es ist Samstag, ich kann tun, was ich will.

      Ich kann im Bett liegen bleiben. Ich kann in die Stadt zurückgehen. Ich kann weitergehen, die offene Straße einschlagen. Ein offener Tag. Ein offenes Leben, es liegt vor mir, ich brauche nur zur Tür hinauszugehen.

      Ich gehe die Treppe hinunter und frühstücke; ein Ei, weißes Brot, etwas Käse, Orangensaft und Kaffee. Ich bin allein im Frühstücksraum. Hier wird man von keinem bedient, von keinem besucht. Ich bin froh, allein zu sein. Diese menschenleeren Räume erinnern mich daran, weshalb ich mich so entschieden habe; ein leeres Haus, eine leere Hütte, ein leeres Zimmer, das ist es, was mich zum Schreiben anregt.

      Die ersten zwanzig Kilometer gehe ich in nördlicher Richtung an der Straße entlang. Anschließend durchquere ich den Rest der Insel Osterøy, durch ein langgestrecktes Tal gehend, auf einem schmalen Weg, der zwischen einem nicht sonderlich hohen Bergrücken und einem Wald aus Birken und Espen, einem luftigen, offenen Wald, hindurchführt. Ich folge einer Karte, werde bis Kallestad gehen und den Veafjord auf einer Brücke überqueren. Gemäß der Karte, die ich mir gekauft habe, gibt es in Stamnes eine Pension. Ich folge dem Weg, und es ist, als ginge man in einer anderen Zeit; ein Teich mit Schwänen, ein verfallenes herrschaftliches Haus. Ein aufgegebener Bauernhof und dieser Weg, der sich sanft über Sumpf und Erdreich schlängelt. Eine Tagestour in einer menschenverlassenen Landschaft, nur gestört durch Spuren dessen, was einmal war; ein Zaun, ein verwilderter Garten.

      Ich kenne diese Landschaft von den kleinen Ortschaften am Sunnfjord, den verlassenen Plätzen, sie wachsen zu. Eine leere Scheune, ein stilles Haus, dennoch ist es, als hinge noch Leben an diesen Plätzen, ein Laut? Hat sich in dem Fenster etwas bewegt? Ein Gesicht? Das Geräusch von Schritten? Ich erinnere mich an ein kleines Dorf auf den Lofoten, wir waren zu Fuß dorthin gegangen und fanden den Ort verlassen vor, sieben, acht leerstehende Häuser und ein leeres Schulgebäude; wir brachen die Tür auf, um einen Platz zum Schlafen zu haben, und fanden das Klassenzimmer so intakt und aufgeräumt vor, als wären die Schüler eben erst zur Tür hinaus in die langersehnten Ferien gestürmt. Ein Kalender an der Wand erzählte eine andere Geschichte. Juni 1977 lasen wir auf dem Kalenderblatt. Oder dieser Ort in Sunnmøre, ein Dorf an der Schotterpiste Richtung Øye, wo das Wasser eine ganze Siedlung überflutet hatte und die Häuser nun dort standen, unter Wasser, scheinbar unbeschädigt, voller rätselhaften Lebens.

      Ich gehe unruhig an diesem Platz vorbei, den die Vergangenheit bewacht, und nach dem harten Aufstieg werde ich mit der unerwarteten Aussicht auf eine Landschaft mit Bauernhöfen und Tieren belohnt. Freude übermannt mich; das Leben ist nur ein paar Kilometer weitergezogen, aus dem verwilderten Tal, über die Anhöhe und in die offene Landschaft hinaus, zu neuen und besseren Häusern, zu Straßen und Verkehrsverbindungen, zu einem leichteren Leben. Ich denke an diesen Baron von R., von dem Hoffmann erzählt, er reiste umher und sammelte Aussichten. Diese Aussicht ist weder spektakulär noch ungewöhnlich, es ist eine ganz und gar alltägliche Aussicht, wie man sie so oft sieht, von jeder beliebigen Erhebung auf dem Land aus, dass sie einem gar nicht mehr auffällt. Es ist eine Aussicht nach meinem Geschmack, denke ich, sie wirkt beruhigend. Ich setze mich ins Gras, lehne mich gegen den Rucksack und zünde mir eine Zigarette an. A. O. Vinje preist in einem seiner Gedichte den Rucksack als seinen besten Kameraden, seinen treuen Reisegefährten, und so ist es wirklich, ich bin schon ganz vernarrt in meinen Rucksack und dazu übergegangen, mit diesem Gnom zu sprechen, den ich auf meinem Rücken trage. Ich sage: Jetzt gönnen wir uns ein bisschen Ruhe. Im gleichen Moment fällt mir etwas ins Auge, was sich im Gras bewegt. Fünf, sechs Meter von der Stelle entfernt, an der ich sitze, ein Körper. Ich spüre ihn eher, als dass ich ihn sehe, es muss ein verhältnismäßig großer Körper sein, von der Größe eines Kindes, eines Neugeborenen. Und richtig, ich stehe auf und gehe vorsichtig hin, dort liegt ein Rehkitz. Seine Augen sind geschlossen, das Maul steckt beinahe im Erdboden. Es liegt im Sterben. Der Schädel ist von Fliegen bedeckt, einem ganzen Schwarm von Fliegen, die an seinem Kopf kleben. Eine dunkle, schreckliche Haube, die sich in das Tier bohrt. Aber keine Wunde, keine sichtbaren Verletzungen. Das Kitz atmet. Woran erinnert es mich? Ich werde von maßloser Traurigkeit überwältigt, gefolgt von einer ebenso unberechtigt rasenden Wut; die Fliegen müssen fort. Ich wedele die Fliegen fort, muss sie abschaben, abpflücken. Der Tod fesselt sie so sehr, dass sie nicht ablassen wollen, doch ich bürste sie fort, jede einzelne Fliege. Anschließend mache ich etwas Überraschendes. Ich hebe das Rehkitz auf, lege es mir über die Schulter und will es zum nächstgelegenen Bauernhof tragen. Beim Gehen kommen mir Zweifel, ob das die richtige Entscheidung ist, ob ich das Kitz nicht hätte liegen lassen sollen, womöglich hat das Muttertier, von mir verscheucht, ganz in der Nähe Schutz gesucht, ich weiß es nicht, werde unsicher, soll ich das Kitz hinabtragen, oder wieder zu der Stelle zurück, an der ich es gefunden habe? Es wird so oder so sterben, denke ich. Es ist fast leblos, es wird sterben, das musst du akzeptieren, sage ich mir. Du musst den Tod akzeptieren, aus mehreren Gründen ist es wichtig für dich, den Tod zu akzeptieren; du kannst nichts gegen


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