Gehen. Tomas Espedal
mir weder, verheiratet zu sein, noch auf dem Land zu leben, es gelang mir nicht, das Schreiben aufzugeben. Es gelang mir nicht, mich selbst loszuwerden. Es gelang mir nicht, ein Anderer zu werden. Ich vermisste mein früheres Leben. Ich wollte allein sein. Wollte Bücher schreiben. Ich isolierte mich. Ich schrieb. Ich nahm mein altes Leben wieder auf. Meine alte Geschäftigkeit. Neue Beziehungen. Neue Träume, neue Reisen, neue Begegnungen, neues Geld, neue Bücher. Neue Zusammenbrüche. Aber niemals ein neues Leben. Was meinst du, ist es möglich, ein neues Leben anzufangen? Ich weiß es nicht. Heute ist alles zusammengebrochen, zum reinen Nichts, und ich weiß nicht, was ich tun soll.
Liebste.
Ich gehe, ich verlasse dich heute.
6
Aus einer Beziehung gehen. Pentti Saarikoski schreibt in Brief an meine Frau: »Sicher, ich mochte diese Frau, mit der ich hier zusammenwohnte. Dennoch wollte es mir nicht gelingen, mit ihr zusammenzuleben. Sie ging so langsam. Auf der Straße ging ich stets zwei Meter vor ihr. Und sie war nie wütend auf mich.«
Es stimmt schon, du warst immer wütend, wir gingen stets Seite an Seite, Hand in Hand, dennoch wollte es uns nicht gelingen, zusammen zu sein, oder doch?
Ich gehe zur Tür hinaus, schließe sie hinter mir, es ist Morgen. Wohin soll ich gehen? Nach rechts oder nach links? Das Einfachste wäre jetzt, auf direktem Weg zur Gaststätte zu gehen, aber ich will nicht das Einfachste, ich will etwas anderes, etwas Schwierigeres und Neues. Aber was genau ist das? Ich will allein sein. Ich will nicht allein sein. So gehe ich und denke, wende mich nach rechts, nicht nach links zur Stadt, wie ich es sonst zu tun pflege, nein, ich nehme den Weg, der aus der Stadt herausführt. Ich habe Geld in der Tasche. Ich bin ein freier Mann. Ich vermisse dich bereits. Ich gehe in die falsche Richtung, aus der Stadt heraus, kann jederzeit auf die Idee kommen, kehrt zu machen, zurückzugehen, gehe jedoch geradeaus. Aus wie vielen Beziehungen bin ich schon gegangen? Aufbruchblauer Himmel, leichte Wolken, wie kleine Buchstaben, wie Abschiedsbriefe, ich schreibe: geh. Der Tag beginnt, die Wärme kommt, ein leichter Gegenwind, und in mir macht etwas kehrt. Ich habe Lust auf ein Bier. Die Gaststätte öffnet in einer Stunde. Sie ist ein guter Ort. Meine Gewohnheiten sind allseits bekannt. Ich überrasche in aller Regel niemanden. Ich gehe aus der Stadt heraus, auf dem Asphalt auf die Festung Bergenhus zu, durch den Park, die Sonne scheint. Das Gras ist frisch gemäht, der gute Duft, plötzliche Freude. Ein Windstoß, die Bäume, die zu einer Allee gereiht stehen; sie geben Acht, dass der Park seine Form, die Welt ihren Sinn behält. Die Blätter der Bäume verfärben sich, es geht auf den Herbst zu. Ich gehe dem Winter oder Frühling entgegen. Es ist Sommer, Spätsommer, jemand schreibt August. Aber ich will keinen Brief schreiben, verschwinde in aller Stille, wortlos, ohne Erklärung; ich habe keine.
Ich liebe dich.
Und dort führen die Steintreppen zur Festung hinauf, die kleine Holzbrücke an der Außenseite der Mauer und der Weg zum Nye Sandviksvei hinunter. Zwei Kampfhunde hinter einem Zaun, ich spüre die Bereitschaft erwachen, die Lust, einem dieser Vernichtungstiere an die Kehle zu springen und seinen Hals zu zerfetzen. Ich spüre die Angst. Den spontanen Hass; meinen eigenen und den des Tiers, ich hasse den, der hasst. Doch als ich an den Hunden vorbei bin, bessert sich meine Laune, ich pfeife. Tirili, Tirila. Ich gehe die Straße hinab, und hier beschreibt sie eine Kurve, die so scharf ist, dass ich zurückblicken und die Stadt sehen kann, die ich soeben verlasse.
Eine Kurve. Der schöne Bogen zwischen dem, was war, und dem, was kommen wird.
Ich liebe diese Kurve.
Ich bin sie viele Male gegangen. Aber heute gehe ich sie zum ersten Mal. So fühlt es sich an. Vielleicht, weil ich sie nicht zurückgehen werde, vielleicht, weil ich so wach bin; heute sehe ich diese Kurve, folge ihr getreu, mit jedem Meter, mit jedem Schritt. Es ist meine Kurve. Ein zertretenes Blatt, Steinchen, eine ausgetrocknete Schnecke, eine plattgefahrene Kröte, kleine Spuren; du bist auf dem richtigen Weg. Du bist auf dem Weg zu etwas Vertrautem und Neuem. Als träte man rückwärts durch eine Tür ein, es ist dein Haus, dein Zweifel, dein Weg. Du folgst mir wie ein Schatten. Wir gehen Seite an Seite, Hand in Hand, jeder an seinem Ende der Stadt. Du fehlst mir. Nun aber endet die Kurve, und die Straße verläuft gerade und gabelt sich wie ein allzu mächtiger Fluss; sie will etwas. Ich weiß nicht, was ich will, folge jedoch der Straße aufwärts, nicht abwärts, ich gehe nach rechts und nehme den Amalie Skrams vei. Hier wohnte ich ein Jahr bei dem Philosophen, er war es, der mich lehrte zu gehen. Er lehrte mich, in einem Haus zu wohnen. Ich hatte Häuser nie gemocht, sie waren mir zu groß und zu widerspenstig. Ein Haus ist fordernd, schwierig. Man muss lernen, ein Haus zu bemeistern. Man muss lernen, darin zu wohnen. Ich lernte es, wollte es aber nicht, ich wollte in keinem Haus wohnen. Wir stritten uns darüber, denn du fandest Gefallen daran, in großen Häusern zu wohnen. Ich habe keine Zeit, in einem Haus zu wohnen, sagte ich, außerdem macht es mir Angst; all diese Türen, die überflüssigen Zimmer, die vielen unnützen Möbel, die unfreundlichen Fenster. Ich bin in einer kleinen Wohnung aufgewachsen. Meine Eltern wohnten in einer modernen Wohnung, weil sie ihre Zeit arbeitend verbrachten. Wenn sie nicht arbeiteten, mussten sie sich ausruhen. Zentralheizung, Linoleumboden, Holztäfelung und Hausmeister, das sind Errungenschaften, die es einem ermöglichen, sich auszuruhen. Die es einem ermöglichen, keinen Gedanken an das Wohnen zu verschwenden. Man wohnt. Man arbeitet. Man ruht. Ich war in dieser Wohnung glücklich, sagte ich. Du aber wolltest in einem Haus wohnen. Und es kam, wie nicht anders zu erwarten; ich musste Holz hacken, den Ofen anfeuern, eine Wand einreißen, eine andere hochziehen, den Fußboden abschleifen, eine Tür reparieren, ein Fenster austauschen, ich musste das Haus streichen. Ich arbeitete im Garten. Ich stellte die Möbel um, das Haus war groß, wir wussten nicht, wohin mit uns. Ich schrieb kein einziges Wort in diesen Jahren. Was ich brauche, sagte ich, sind ein paar Stunden Frieden und Ruhe, ein paar Tage hintereinander ohne Pläne und Tatendrang. Was ich brauche, sagte ich, ist ein kleines Zimmer, am liebsten eine Kleiderkammer. Ein kleines, kühles, unberührtes und ungestörtes Zimmer, in dem ich schreiben kann. Doch etwas Derartiges gab es in unserem Haus nicht. In dieser Phase, als ich in einem großen Haus wohnte, bot mir der Philosoph ein Zimmer in seinem Haus an, er wohnte allein in einem freistehenden Haus. Jemand hätte mir sagen sollen, dass ich einer falschen Fährte folgte, ich hätte bei einem Schloss enden können, fast so wie jener unglückselige Landvermesser bei Kafka, aber der Philosoph hatte es vor allem darauf abgesehen, mich über das gute Leben aufzuklären. Ganz auf mich selbst gestellt, entdeckte ich, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen der Qualität des Denkens und Schreibens und der Größe des Hauses, das man bewohnt. Eher umgekehrt. Große Häuser führen möglicherweise zu großen Gedanken, aber gut sind sie deshalb noch lange nicht. Nun ja. In meinem Fall führen große Häuser unweigerlich zu kleinen Gedanken. Wo soll man den Salontisch platzieren? Wann ist der richtige Zeitpunkt, um die Fassade zu streichen? Welche Farbe soll man wählen? Wer wird die Rechnung bezahlen? Welche Bücher muss ich schreiben, um das Haus abzuzahlen? Einen Kriminalroman? Die Handlung war zum Greifen nah. Ich hatte große Lust, die Frau zu ermorden, mit der ich zusammen war. In dieser Phase lernte ich, zu gehen. Gehen ist in gewisser Hinsicht das genaue Gegenteil davon, in einem Haus zu wohnen. Zumindest gilt dies für die Wanderung, die eine erweiterte freiwillige oder unfreiwillige Geherfahrung ist, eine Wanderung ist erwünschte oder unerwünschte Heimatlosigkeit. Hatte ich mir nicht schon seit langem gewünscht, mich auf den Weg zu machen, ohne Kurs und Ziel, und nur zu gehen, in eine einzige, beliebige Richtung, fort von diesem mörderischen Haus? Der Philosoph ging täglich, zu seinem Büro und wieder zurück. Das schärfe sein Denken, behauptete er. Das Gehen bringe das Denken in Schwung, und die Gedanken, die einem beim Gehen kämen, seien besser als jene, die man denke, wenn man stillsitze, beispielsweise in einem Büro. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er in seinem Büro. Ich saß am Schreibtisch des Hauses, das er bewohnte. Ich hatte Lust, zu gehen. Nicht hin und her, sondern geradeaus und fort, so weit ich kommen konnte. Nun, jetzt gehe ich hier, nach vielen kleinen Umwegen, an seinem Haus vorbei, geradeaus, den Anstieg hinauf, am Krankenhaus Sandviken und dem vorbei, was einst Dr. Martens Krankenhaus hieß, hier arbeitete meine Mutter, als Arztsekretärin, für Doktor Madland und Doktor Lieb, und manchmal auch für Doktor Ose. Von meiner Mutter habe ich den Respekt vor Ärzten geerbt, insbesondere vor Psychiatern, von ihr habe ich zu schreiben gelernt. Sie schenkte mir meine erste Schreibmaschine, es war eine Arztsekretärinnenmaschine,