Gehen. Tomas Espedal

Gehen - Tomas Espedal


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Straße und der alten Strecke in die Innenstadt zu gehen.) Die Straße öffnet sich rechter Hand zur Berufsschule und zum Sportplatz Krohnsminde, linker Hand zu Hochhäusern und dem Wasser der Solheimsviken, ich schlendere an den Kochlehrlingen auf der Steintreppe zur Schule vorbei, sie rauchen im Stehen unter ihren luftigen weißen Kochmützen, als hielten sie mit den Mützen die Wolken in die Höhe; sieben, acht angehende Köche neben den Friseurlehrlingen aufgereiht, die man unschwer an ihren Frisuren erkennt, roten, grünen Mähnen in allen Längen und Richtungen (eine der jungen Frauen hat sich die Haare in einer Schiene von der Stirn bis in den Nacken abrasiert, als führte die Straße über ihren Kopf), und ich gehe geradeaus, zum Danmarksplass. Unter den Verkehrsknotenpunkt. Rechts oder links im Tunnel der Unterführung? Er gabelt sich, heute gehe ich nach rechts, und im Nachhinein muss ich froh sein, nicht nach links gegangen zu sein, denn kurze Zeit später, auf der rechten Route, gleich hinter dem Forum Kino, nach dem Hang zum Store Lungegårdsvann hinunter, auf der Brücke, wo auf dem Asphalt Fische liegen und sterben, treffen die Sonnenstrahlen ein Verkehrsschild und ein Glücksgefühl übermannt mich überraschend. Es sagt nichts weiter als: Du bist glücklich. Hier und jetzt. Grundlos. In diesem Moment bist du glücklich, ein Geschenk. Anders lässt es sich nicht beschreiben. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, glücklich zu sein, bin verkatert und deprimiert, habe vier Tage ununterbrochen getrunken, wohne allein in einem dreckigen Haus in einer schäbigen Straße, schlafe auf einer Matratze, keine Möbel, bin verlassen worden von ihr, mit der ich es schaffen zu können glaubte. Ich bin auf dem besten Weg, mich zugrunde zu richten, es ist eine harte und ernste Untergangsarbeit, ich trinke und gehe vor die Hunde, und dann bin ich urplötzlich glücklich. Warum? Weil die Sonnenstrahlen ein Verkehrsschild treffen? Es verschlägt mir den Atem, ich muss stehenbleiben. Mein Körper ist von warmer und jubelnder Klarheit erfüllt. Die Gedanken erwachen und verlieren an Gewicht, es ist eine ganz konkrete Erfahrung, meine Gedanken werden leichter, und ich gehe, nun leichter, weiter Richtung Nygårdshøyden und Innenstadt. Langsam wird mir klar: Du bist glücklich, weil du gehst.

      2

      Auf den Hund kommen, zu Boden gehen: kriechen, auf allen vieren, den Bauch auf dem Fußboden, mit dem Gesicht nach unten, eine Narbe in den Augen, das Licht, es schlägt wie ein Stock, eine Wunde, in der jemand pfeift, sie pfeift im Blut, es pfeift im Kopf, wer ist das, der da pfeift, sich dem nähern, über den Boden kriechen, unter den Tisch, eine Alkohollache, sie auflecken, sich herumwälzen und unter dem Tisch zusammenrollen, du siehst die Hälfte oder weniger von allem, die Taille, vielleicht, die nackten Füße, und am Abend den Saum des Nachthemds. Die Tischkante verdeckt das Gesicht, es ist dein Vater, dein Herr und Meister, der schöne Rücken, der Schweiß und das Hemd, wir ziehen wieder um. Das leere Zimmer, so befreiend nackt, eine Lampe, ja, etwas zum Lieben, eine Lampe lieben, zieh dich aus, lösch das Licht und geh zu Bett, wenn du nur wüsstest, woher willst du das wissen, was weißt denn du, er findet die Zigarette, kriecht unter den Tisch, wie schön es doch ist, zu kriechen, in sich selbst zu ertrinken. Wie schön es doch ist, zu trinken, sich mit Vergessen zu füllen, vor die Hunde und heim zu gehen.

      Die sinkende Dunkelheit unter dem Tisch, als wohnte man in einem Haus im Haus, Montag, Dienstag, Donnerstag, eine Hundehütte, du kriechst heraus, rollst zur Wand, steckst den Dorn der Gürtelschnalle in die Steckdose, jetzt!, fühlst du das Licht, fühlst du die Kraft, nun kannst du sehen, wie er sich aufrichtet, zur Tür vortastet, kämpft und springt, einen Satz zur Türklinke macht und sie mit der Schnauze erreicht, sie herunterbeißt, das Metall an der Zunge, die Tür aufbellt und in den Flur hinausläuft, lärmt und all die Laute von sich gibt, die erforderlich sind, damit jemand kommt und ihn fortholt.

      3

      Ehe ich gehe: Lasst uns die Freuden aufzählen, die wir kennen! Zu trinken, an der Theke zu stehen und zu schwanken, das Glas zu erheben, die Zigarette anzuzünden, zu reden, ohne zu wissen, was gesagt wird, ein unaufhaltsamer Strom des Vergessens, aufgenommen von einem beliebigen Mund.

      Am Tag danach, zu kriechen, durch die Stadt zu kriechen, die Treppen hinauf, zur Tür herein, über den Teppich, zum Fenster aufzuschauen, mit den Kindern zu spielen, zu den Kleinen zu sprechen wie ein Irrer.

      Zu lieben, will sagen, mich auf sie zu stürzen, sie anzuziehen, Slip und Strumpfhose, Unterhemd, Pullover, ihr die Mütze aufzusetzen und die Jacke überzustreifen und sie abzuliefern, anschließend zu rennen, jetzt rasend schnell, vom Kindergarten kommend, die Kurven und Treppen hinab, in die Wohnung zu stürmen und mich auf sie zu stürzen, ihr Pullover und Strumpfhose, Slip und Unterrock auszuziehen, sie ins Bett zu zwingen, will sagen, hier hast du mein Leben. Eine reine Freude, zu schlafen.

      Eine ernste Freude, zu erwachen, jeden Morgen zum Ernst des Lebens zu erwachen. Es ist eine Freude, dass das Leben ernst ist. Du erwachst, das ist eine Freude, du erwachst zum Ernst, das Leben erwacht, nicht nur du, sondern auch der Nachbar und das Geschäft, die Straßen und Geräusche und die Luft, die sie nicht mehr atmet.

      Die Freude am Leben. Ich liebe das Leben. Je älter ich werde, desto mehr freue ich mich über das Leben. Ich habe immer größere Angst vor dem Tod. Das erstaunt mich. Ich werde mit den Jahren nicht klüger, im Gegenteil, es könnte sogar sein, dass ich auf eine reine und allumfassende Dummheit zusteuere.

      Die Freude, sich Ruhe zu gönnen, längere Zeit, zu Hause zu bleiben, eingesperrt in der Wohnung, die Tür abzuschließen, das Licht zu dämpfen, im Lampenschein am Schreibtisch zu sitzen, zu schreiben oder nicht zu schreiben.

      Die Freude über den Schreibtisch, über die Dinge, den Aschenbecher und die Lampe, das Fenster, die Stühle, den Teppichboden und die Türen. Die Freude an den Dingen. Von Menschenhänden erschaffen. Das Haus, die Treppen, der Aufzug, all die Türen und Quadrate, Bücher und Briefe, dieser Schreibtisch, dieser Stift, aus Sprache erschaffen.

      Es ist Dienstag, und erst heute, an diesem Tag, denke ich über die Freude nach, sprechen zu können. Ich freue mich, denken zu können, gerade heute freue ich mich, schreiben zu können, es ist Dienstag und ich bin froh, dass Dienstag ist.

      Ich habe auch die Freude am Reisen nicht vergessen. Die erregende Freude daran, sich fortzubewegen, in einem Auto zu sitzen und loszubrausen, regungslos und in rasendem Tempo, ich liebe es, schnell zu fahren, schnell und weit, aus der Stadt raus, in der Dunkelheit, nachts zu fahren, aus der Stadt raus und wieder zurück. Oder die kurzen Strecken, mit Bus oder Boot, die gleiche Strecke hin und zurück; am liebsten sind mir die Fähren, oder Züge, sie weichen nicht von ihren ursprünglichen Plänen ab.

      Wir vergessen. Wir vergessen das Fundamentale, die Freude darüber, aufwachen, in die Küche gehen und ein Glas Wasser trinken zu können.

      Ein Glas kaltes Wasser!

      Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst … Dieser Triumph, sich aufzurichten, vom Fußboden, und stehen zu bleiben und zu wanken, diese plötzliche Befähigung und kindliche Freude darüber, von Zimmer zu Zimmer gehen zu können.

      Ja, am meisten freut es mich, zu gehen.

      Es ist Dienstag und ich gehe aus. Ich gehe aus und trinke. Eine idiotische Freude. Die Freude darüber, zu schwanken und die Worte und das Gleichgewicht zu verlieren, zu torkeln und zu kriechen, es ist fast, als würde man wieder zum Kind.

      4

      Direkt gegenüber von dem Haus in der Vestre Torggate, in dem ich als Kind lebte, liegt eine Gaststätte. In dieser Gaststätte befindet sich eine Theke. An dieser Theke habe ich zwei Jahre fast jeden Abend gesessen und getrunken. Von meinem Tisch am Fenster aus habe ich zu jenem Fenster hinaufschauen können, an dem ich als Kind stand und zu den Lampen hinter der Glasfront hinabstarrte, unter denen ich jetzt sitze.

      Gut möglich, dass sich unser Leben im Umkreis weniger entscheidender Orte abspielt und ich zu einem dieser Orte zurückgefunden habe. Eine Straße. Sie führt aufwärts, steigt steil an und kreuzt eine Stichstraße, ehe sie in Treppen übergeht; die Stufen zur Johanneskirche hinauf. Die Gaststätte liegt links, mein Elternhaus rechts; vor dem Hauseingang gibt es ein viereckiges Fleckchen Garten und einen Baum, ich glaube, es ist eine Buche, ich schreibe, dass


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