Gehen. Tomas Espedal

Gehen - Tomas Espedal


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Theke, und hier sitzt meine neue Familie. Ja, das Lokal erinnert wirklich an ein Wohnzimmer. Hier sitzen mein Trinkbruder und meine Trinkmutter und mein Trinkvater, und dort sitzt meine Trinkschwester, sie gibt mir Bier und Zigaretten. Aber ich möchte allein sitzen. Ich möchte die ersten Biere allein mit den Gläsern und der Theke und dem Wirt trinken. Lauschen und schauen. Die immergleichen alten Geschichten hören, die gleichen Gesichter sehen und ein Anderer werden.

      Wer wirst du sein? Wem wirst du begegnen? Wo wirst du landen? Was wird geschehen? Sich an die Theke zu setzen ist, als bräche man zu einer Reise auf. Trinken ist wie reisen, ohne sich vom Stuhl zu rühren.

      Die Dunkelheit ist ein Ort, das Licht ist ein Weg, schrieb Dylan Thomas. Ich befinde mich in der Dunkelheit, habe meinen Stammplatz an der Theke gefunden und bestelle ein Bier. Das erste ist gut. Das zweite am besten. Das dritte ist besser als das erste, das vierte ist ganz ausgezeichnet, das fünfte auch, bei den restlichen geht es nicht mehr um den Geschmack, sondern ums Trinken, es geht um den Rausch. Ein gutes, langsames Vergessen. Nicht wie bei Wein oder Schnaps, nicht so ungeduldig, nicht so beflissen; wir werden hier lange sitzen, das ist die Kunst, zu sitzen und zu trinken, einen ganzen Abend bis in die Nacht hinein, darin besteht die Kunst: so lange ruhig sitzen zu bleiben, bis du dich bewegst. Sachte und unbeschwert reist du fort von dir selbst.

      Man muss sich diesem Gedanken einmal stellen: Du wirst dein Leben lang mit dir selbst leben. Du kannst eine neue Geliebte finden, du kannst Freunde und Familie verlassen, verreisen, eine neue Stadt und neue Orte finden, du kannst verkaufen, was du besitzt, und dich von allem trennen, was dir nicht passt, aber solange du lebst, wirst du dich nie von dir selbst trennen können.

      Es gibt Phasen im Leben, da sagst du dir: Du bist eine ungeduldige Person. Es gibt Phasen im Leben, da hast du Lust, auf den Hund zu kommen. Vor die Hunde und heim zu gehen. Du trinkst und gehst zu Bruch, du sinkst. Du arbeitest hart daran, bis zum Grund zu sinken. Du bist auf dem Weg nach unten, und das Gute an dieser Zerstörungsarbeit ist, dass du sie genießt.

      Es gibt simplere Gründe dafür, dass ich trinke. Ich liebe Alkohol. Ich mag diese Theke. Hier fühle ich mich zu Hause. Es ist eine gute Theke. Die Theke ist ein guter Ort, ein Trinkort. Die Theke ist ein perverses Zuhause, ein unmögliches Wohnzimmer.

      Es ist Dienstag, der beste Abend. Das Lokal ist voll, ich mag Gedränge. In eine niedrigere Einheit zu fallen, in eine Art untere Gemeinschaft; eine betrunkene Gesellschaft. In diesem Moment hat die Uhr zwölf geschlagen, es ist weder Dienstag noch Mittwoch, es ist Trinkzeit. Es ist Zeit, zu verschwinden, hier, inmitten deiner Freunde und deiner neuen Familie und all jener, die du nicht kennst. Du sitzt an der Theke und trinkst. Du hast dich in die Menge geworfen, und ohne dass es jemandem auffallen würde, sinkst du bis zum Grund hinab und bist fort.

      5

      Der Traum vom Verschwinden. Vom Fortsein. Eines Tages zur Tür hinausgehen und nicht wiederkehren.

      Der Traum, ein anderer zu werden. Freunde und Familie zu verlassen, sich selbst zu verlassen und ein anderer zu werden; alle Bande abzuschütteln, Heim und Gewohnheiten zurückzulassen, Besitz und Geborgenheit, Zukunftsaussichten und Ambitionen aufzugeben, um ein Fremder zu werden.

      Sich einen Bart stehen und die Haare wachsen lassen, seine Augen verbergen, eine Brille, zerschlissene Kleider, ausgelatschte Schuhe tragen, das Gesicht aufquellen, die Hände schwarz werden lassen, sich in seiner gewohnten Umgebung bewegen, unter seinen alten Bekannten, und beobachten, welchen Eindruck das alles auf einen macht, wenn man selbst fort ist.

      Der Traum von einer Verwandlung.

      Als wachtest du eines Morgens im Bett neben einem Gesicht auf, das du nicht kennst. Als spräche sie deinen Namen aus, und dein Name erschiene offen. Als würdest du aus dem Bett steigen, durchs Zimmer gehen und den Lichtschalter nicht dort finden, wo er sein sollte: Der Nachttisch ist fort, die Wände sind verändert, die Decke ist abgesenkt worden, und die Tür, einen Spaltbreit offen, ist links vom Bett und nicht rechts wie sonst. Und wo ist das Fenster? Das Fenster zum Hinterhof, es bietet Aussicht auf eine Landschaft, die du noch nie gesehen hast, aber dennoch erkennst, vielleicht aus einem Traum oder früheren Leben, oder die Landschaft gehört zu einem Leben, von dessen Kommen du wusstest, zu einem Ort, von dem du wusstest, du würdest ihn finden, und nun bist du hier, stehst am Fenster, siehst hinaus und bist für einen Moment glücklich; du hast vergessen, wer du bist.

      Oder die geträumte Verdoppelung, ein Albtraum; du stehst an einer Straßenecke und siehst auf der anderen Straßenseite jenen Mann, den du von allen am meisten fürchtest; du siehst dich selbst. Du kannst dem Drang nicht widerstehen, ihm zu folgen, und kommst nicht umhin zu bemerken, dass er einen Weg und eine Route nimmt, die du kennst und deine eigene nennst. Dein Name steht auf seinem Briefkasten. Er liest deine Briefe. Deine Gewohnheiten scheinen ihm vertraut zu sein. Er hat ganz offensichtlich deinen Platz eingenommen. Was sollst du tun? Was wirst du tun? Du wolltest verschwinden, kannst aber jederzeit ersetzt werden, bist schon ersetzt worden, und erkennst nunmehr schmerzlich und klar, wie sehr du an dich und deine Eigenart gefesselt bist.

      Oder die Kehrseite dieses Traums, der schwarze Spiegel, du blickst in die Dunkelheit und willst sterben. Wie bist du hierher gekommen? Du trittst einen Schritt vor, zum Bett oder Fenster; sollst du dich hinausstürzen, auf die Straße, der harte Schluss, oder dich ins Bett legen und ein Glas Tabletten schlucken, was willst du? Wie bist du hierher gekommen? Eine Stimme schreit in deinem Kopf, eine andere in den Ohren, eine dritte in der Brust, eine vierte im Bauch: Tu es nicht! Du aber gehst zum Fenster, schaust hinunter, auf die Straße hinab, die Straßenlaternen brennen, es ist Nacht. Du trägst deine besten Kleider, das Hemd ist gebügelt, die Haare sind gekämmt, das Gesicht ist rasiert, als wolltest du zu einer Reise aufbrechen, einer letzten Reise. Wie leid ich es bin, zu reisen. Wie leid ich es bin, daheim zu sein, wie leid ich das alles bin. Ja, wie bin ich hierher gekommen, zu diesem Fenster oder Bett, und zu dem Gedanken, aufzugeben? Ich will nicht auf der Straße gefunden werden, so feucht und offen, so entblößt und zerstört. Ich wähle das Bett und gehe zum Bett, liege im Bett, es schreit im Mund und im Hals, in den Händen und der Hand: Tu es nicht!

      Oder der Traum, nicht mehr zu sein, allerdings nur, um als etwas Neues wiederaufzuleben, nicht als Käfer, nicht als Blume, nicht als etwas Höheres oder Niederes, nicht als Nichts, sondern wie im christlichen Traum von Lazarus: zu einem neuen Leben zu erwachen. Wiedererkennbar für sich und andere, gleichwohl verändert. Ein neuer Mensch.

      Ein alter Traum. So alt wie der Mensch, wie der Überdruss am Sein. Wie die Unzufriedenheit darüber, man selbst zu sein. Nein, jetzt habe ich genug. Nein, jetzt kann ich nicht mehr. Und dann diese Lüge, die allmählich zu Stumpfsinn, zu einer lebensmüden Wahrheit geworden ist; ich habe alles gesehen, alles gehört, alles getan.

      Die Langeweile. Nicht die gute, stille, sondern die quälende, erstickende, angstvolle Langeweile. In das große, allumfassende, leere, sinnlose Nichts zu starren.

      Heute habe ich meinen Glauben verloren. Den Glauben an etwas Neues.

      Es bleibt einem nichts, als sich zu wiederholen.

      Was wurde aus den Freuden?

      Der Freude, sich zu wiederholen?

      Aufzustehen, sich das Gesicht zu waschen, sich im Spiegel zu betrachten, sich anzuziehen, zu frühstücken und sich an den Schreibtisch zu setzen. Alltägliche Verrichtungen: sich abmühen, um etwas Neues zu finden, ein neues Wort, einen neuen Satz, ein neues Buch.

      Ist dir nie eine Stunde gekommen,

      Ein jäher, göttlicher Funke, der

      diesen ganzen Schwindel,

      Mode und Reichtum, diese geschäftigen Ziele

      voll Eifer – Bücher,

      Politik, Liebesaffären –,

      in völliges Nichts zersprengt?

      Schrieb Walt Whitman, und heute, Donnerstag, den neunzehnten August, um acht Uhr dreiundvierzig, ist diese Stunde ein zweites Mal zu mir gekommen. Was tat ich beim ersten Mal? Ich hörte auf zu schreiben. Es währte vier Jahre. Ich zog aufs Land, heiratete und bekam Kinder, versuchte


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