Gehen. Tomas Espedal

Gehen - Tomas Espedal


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Ein neues weißes Hemd, und am auffallendsten, ein neuer Sportrucksack, orangefarben, er leuchtet. Ich bin zufrieden mit der Figur, die ich abgebe, gehe zielstrebig zur Kirche von Åsane hinauf, wo ich erneut auf den Postweg stoße. Es heißt, Rousseau habe bei seinen Ausflügen eine Art armenisches Gewand getragen; Pelzmütze und Pelzschal, einen Lodenpullover. Es gibt ein Porträt von ihm in diesem Aufzug, gemalt von Allan Ramsay. Die selbstbewusste Pose, die Verrücktheit, die man in seinem Blick erahnt, entspricht dem Selbstporträt, das er in der Einleitung zu seinen Bekenntnissen skizziert: »Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.«

      Aber es ist nicht möglich, die Wahrheit über sich selbst zu schreiben.

      Man schreibt und versteckt sich. Man kleidet sich in Sprache.

      Was Maurice Blanchot über Kierkegaard schrieb, gilt auch für Rousseau: »Indem er bis zu einem gewissen Grad unaufhörlich über sich selbst spricht und die Begebenheiten in seinem Leben reflektiert, stellt Kierkegaard für sich selbst die Regel auf, nichts Wichtiges über sie auszusagen, und gründet seine Größe darauf, das Geheimnis zu bewahren. Er erklärt und verhüllt sich.«

      Das armenische Gewand ist eine Verkleidung, und auf die gleiche Art schreibt Rousseau, um sich zu verbergen. Er sucht nicht Zuflucht in der Natur, sondern versteckt sich in der Literatur, hinter einem Wald aus Worten. Er dichtet sich und seine Umgebungen, und so muss es wohl auch sein. Rousseau ist nicht anders, er macht sich anders, der Schriftsteller, der uns glauben machen möchte, dass er ein Kind der Natur ist, entpuppt sich als der künstliche Held schlechthin; ein Provokateur, ein Flaneur, ein echter und wahrer Poseur: »Einzig und allein ich. Ich fühle mein Herz – und ich kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, dass ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben. Wenn ich nicht besser bin, so bin ich doch wenigstens anders. Ob die Natur gut oder übel daran getan hat, die Form zu zerbrechen, in der sie mich gestaltete, das wird man nur beurteilen können, nachdem man mich gelesen hat.«

      Wenn man Rousseau dann gelesen hat, ist man voller Bewunderung für den Schriftsteller Jean-Jacques, der Mensch erscheint einem dagegen unzugänglicher, fast schon unsympathisch, aber es ist das Privileg des Lesers, seinem Schriftsteller niemals guten Tag sagen zu müssen: »So bin ich nun allein auf dieser Welt, habe keinen Bruder mehr, keinen Nächsten, keinen Freund, keine Gesellschaft außer mir selbst.«

      War es Rousseau, der die Einsamkeit erfand?

      Man könnte den Eindruck gewinnen. Wie alle großen Einsamen träumt Rousseau von der Gemeinschaft, und je mehr er über diese Gemeinschaft nachsinnt und über sie schreibt, desto einsamer fühlt er sich. Das Schreiben trägt ihm Feinde ein, das Schreiben isoliert ihn und macht ihn einsam. Aber das Schreiben ist zugleich der Speer des Achilles, der die Wunde heilt, die er geschlagen hat; das Schreiben ermöglicht es Rousseau, seine Einsamkeit mit Lesern und Idioten zu bevölkern.

      Rousseau tritt dem Leser mit der gleichen Überlegenheit und Gleichgültigkeit entgegen wie Montaigne in seinen Essais: »Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft. Sei gleich am Anfang gewarnt, dass ich mir damit kein anderes Ziel als ein rein häusliches und privates gesetzt habe […]. Ich selbst, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs. Es gibt keinen vernünftigen Grund, dass du deine Muße auf einen so unbedeutenden, so nichtigen Gegenstand verwendest. Deshalb, lebe wohl!«

      13

      Ursprung der Einsamkeit muss die Sprache sein, denke ich und gehe durch das Gatter gleich bei den Höfen, an denen der Postweg die Steigung nach Mellingen hinaufführt. Es ist ein schöner Weg. Hier ist man also zu Fuß mit der Post gegangen. Ist der Brief nicht das Emblem für Einsamkeit? Der Schreibende. Allein an seinem Schreibtisch. Der Abschiedsbrief. Der Liebesbrief. Der gelbe Briefumschlag, den man sorgsam verschließt und seinem Schicksal überlässt. Man schreibt keine Briefe, um seine Einsamkeit aufzuheben, sondern um sie zu besiegeln.

      Gedanken dieser Art kommen einem, wenn man allein auf einem Postweg geht. Ich muss an jenen Brief denken, den Hölderlin dem Dichter Casimir Ulrich Böhlendorff schrieb, kurz bevor er zu Fuß in die Alpen aufbrach, Richtung Schweiz und später Frankreich: »Und nun leb wohl, mein Teurer! Bis auf weiteres. Ich bin jetzt voll Abschieds. Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Tränen gekostet, da ich mich entschloss, mein Vaterland noch jetzt zu verlassen, vielleicht auf immer.«

      Hölderlin blieb dann doch nicht so lange fort. Im Jahr darauf kehrt er wieder zu seiner Mutter zurück, »leichenblass, abgemagert, mit tiefen, wirren Augen, langen Haaren und Bart, gekleidet wie ein Bettler«. Das viele Gehen hatte Hölderlin nicht gut getan, er treibt nun auf jenen Wahnsinn zu, den die Literaturgeschichte als eine lange Isolation beschreibt: »Er schloss sich in den sogenannten Hölderlinturm am Fluss Neckar in Tübingen ein. Hier verbrachte der rastlose, geistig umnachtete Dichter seine letzten sechsunddreißig Jahre. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang ging er hinaus, spazierte vier, fünf Stunden durch den Garten. Den Rest des Tages verbrachte er damit, in seinem Zimmer auf und ab zu gehen, in ein immerwährendes Gespräch mit sich selber vertieft.«

      Hölderlin war ein Bewunderer Rousseaus, und in seiner Hymne »Der Rhein« taucht der Philosoph als zurückgezogener Weiser auf:

      Wem aber, wie, Rousseau, dir

      Unüberwindlich die Seele,

      Die starkausdauernde, ward,

      Und sicherer Sinn

      Und süße Gabe zu hören

      Na ja. Hölderlin standen eben nicht die Biografien zur Verfügung, die uns heute zugänglich sind. Außerdem gab es so viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden, dass sich der eine im anderen wiedererkannte. Bemerkenswert an Hölderlins Wanderungen ist, dass sie – im direkten Widerspruch zu Rousseaus Anmerkungen zur gesundheitsfördernden und gedankenschärfenden Wirkung des Fußmarsches – Hölderlin angreifen und seine geistige Gesundheit zerstören. Es mag daran liegen, dass Rousseau hauptsächlich kürzere Spaziergänge machte und Wandern mit Spazieren verwechselte, während Hölderlin, der weit ging, ausgezehrt und geprägt war von allem, was er im Laufe seiner Wanderungen erlebt hatte. Wir wissen es nicht. Sicher ist allerdings, dass langes Gehen anstrengend ist. Wer über Wanderer oder Vagabunden gelesen hat, der weiß: Das Leben als Streuner ist hart. Wer Fotografien und Bilder von Landstreichern betrachtet hat, sieht: Das Dasein eines Landstreichers kostet Kraft. Wer einige Monate unterwegs gewesen ist, der weiß: Das Wanderleben ist brutal und zerstörerisch.

      Man ist ohne Heim. Man schläft im Freien. Man ist ein Fremder und erweckt Misstrauen. Man ist schmutzig und hungrig. Man ist allein, geht und geht, es regnet und stürmt, man schläft geduldet, in einer Scheune oder Pension; was man besitzt, trägt man auf dem Rücken, die Beine schmerzen, die Schultern schmerzen, der Körper schmerzt, man vermisst ein Bett und eine Geliebte.

      Ich komme an zwei Bauernhöfen vorbei, trete wieder durch ein Gatter, folge einem Bach und gewinne nach und nach Aussicht auf den Stadtteil Bergens, den ich soeben verlassen habe. Åsane. Die eine Hälfte der Vorstadt prägen Autobahnen und Einkaufszentren, Neubauten und Wohnviertel; Reihenhäuser und Wohnblocks und Einfamilienhäuser, die aus der Ferne unbewohnbar wirken, dünn und flach, wie Kulissen. Noch schlimmer wird es, wenn man die Tür zu einem dieser Häuser öffnet und in ein Heim hineinschaut, das sich einzig und allein dadurch auszeichnet, den übrigen zu gleichen; das Wohnzimmer mit dem Fernsehapparat und den vielen Lampen, all das künstliche Licht, die unangenehme Wärme, die vielen überflüssigen Zimmer, die lebensfeindlichen Möbel, dieses halbtemperierte Interieur, das uns wissen lässt: Die Arbeit, die wir verrichten, ist verschwendet, das Geld, das wir verdienen, wird missbraucht, falsch verwendet, das Leben, das wir führen, ist uninteressant.

      Die andere Hälfte Åsanes erstreckt sich bis zu Feldern und Bergrücken, alte Häuser und Höfe, Traktorstraßen und Feldwege, Bäume und Bäche, Blumen und Gras; langgestreckte, gewellte Flächen, die im Licht der Sonne glänzen. Die alte und die neue Zeit. Die alte Zeit war nicht besser als die neue. Die neue Zeit ist nicht besser als die alte. Man muss wählen, nach bestem Wissen und


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