Kieler Courage. Kay Jacobs
hier ein Bett zu bekommen.
Als sich Rosenbaum und Gerlach auf dem Weg zu Fräulein Gosch-Fassbinder über das Linoleum der gespenstisch leeren Korridore quietschten, überkam sie ein Hauch von Zucht und Paternalismus. Sie erwarteten eine strenge, altjüngferliche Gouvernante, deren Aufgabe es war, einen Ameisenhaufen von hübschen, koketten und unerschöpflich eingebildeten Gören zu disziplinieren. Dass Fräulein Gosch-Fassbinder dazu tatsächlich in der Lage war, erkannten sie auf den ersten Blick. Streng in einen Dutt mündendes Haar, im Gesicht ein eklatanter Mangel an Haut, der wie bei einem Dobermann jede Mimik verhinderte, und die Stimme wie eine Kreissäge.
»Ihr Name war Katharina von Lettow-Vorbeck«, sagte sie eher leise, wenig kreischend, aber scharf.
»Lettow-Vorbeck?« Rosenbaum kratzte sich über dem Ohr. »Habe ich schon mal irgendwo gehört.«
»Ihr Vater ist Paul von Lettow-Vorbeck.«
»Paul von … der Löwe von Afrika?«
Jeder kannte Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck. Er war Kommandeur der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika gewesen. Mit Ausbruch des Krieges von jeglichem Kontakt zum Mutterland abgeschnitten kämpfte er mit seinen wenigen deutschen Offizieren und vielen einheimischen Askaris gewitzt, guerillaartig und zäh gegen einen zahlenmäßig vielfach überlegenen Gegner. So gelang es ihnen, feindliche Kräfte zu binden und damit die deutschen Truppen an den europäischen Fronten zu entlasten. Bis zum Schluss blieben sie trotz hoher Verluste unbesiegt und stellten den Kampf erst ein, als sie von dem Waffenstillstand in Europa hörten. Noch hatte man in Deutschland nur gerüchteweise von dem heroischen Kampf der Schutztruppe und ihres Kommandeurs gehört. Als aber nach dem Waffenstillstand alle Heldengeschichten bestätigt waren, erwuchs Lettow-Vorbeck zu einem Nationalhelden, zum Löwen von Afrika, und zog mit seinen Männern in einem berauschenden Triumphzug durch das Brandenburger Tor in Berlin ein, als wäre er Napoleon. Seine Geschichte war Balsam für die geschundene deutsche Seele und Nährboden für den Mythos des im Felde unbesiegten deutschen Soldaten. Dass auch sein Kampf von den erbärmlichen Grausamkeiten des Krieges geprägt war, wurde nicht zur Kenntnis genommen.
Rosenbaum machte sich nicht viel aus Kriegshelden, denn er machte sich nicht viel aus Krieg, jedenfalls nichts, was für Heldengeschichten taugte. Ein wenig beeindruckt war er jetzt doch, freilich ohne es sich anmerken zu lassen.
»Wissen Sie, warum Fräulein von Lettow-Vorbeck heute Nachmittag zum Kleinen Kiel gegangen war?«, fragte er.
Fräulein Gosch-Fassbinder wusste es nicht. Auch nicht, was Fräulein von Lettow-Vorbeck zuvor gemacht und was sei heute noch vorgehabt habe. Ebenso wenig, ob sie schwimmen gekonnt und was sie in ihrer Freizeit getrieben habe, nur dass sie durchschnittliche Schulleistungen und unterdurchschnittliche Disziplin erbracht habe.
»Hatte sie hier Freunde oder gar Feinde? Hat sie sich mit jemandem gestritten?«, wollte Rosenbaum wissen.
»Nun ja, ich kenne sie nicht so gut. Sie war erst einen Monat bei uns.« Die Hausdame räusperte sich. »Sie war sehr ichbezogen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Nein, verstehe ich nicht.«
»Am besten wird sein, Sie fragen ihre Zimmergenossin Fräulein Fährbach. Die Schülerinnen des Lyzeums teilen sich ein Zimmer zu viert oder zu sechst, die des Oberlyzeums zu zweit. Ich führe Sie hin.«
Wieder quietschte es durch den Korridor. Als sie vor Katharinas und Monas Zimmer standen, war es verschlossen. Fräulein Gosch-Fassbinder öffnete die Tür mit ihrem Generalschlüssel und ließ die beiden Kriminaler hinein.
»Fräulein Fährbach muss ausgegangen sein«, stellte sie fest.
Die Betten waren offensichtlich nicht gemacht, Hefte und Bücher lagen ungeordnet herum, teils sogar auf dem Fußboden. Verschämt hob die Hausdame einige auf, legte sie auf einen Tisch und merkte an, dass auch Fräulein Fährbach unterdurchschnittliche Disziplin zu zeigen pflege.
»Oder hat hier ein Streit stattgefunden?« Gerlach begutachtete das Bücherregal, dessen Kranzgesims an der vorderen rechten Ecke ein wenig ramponiert erschien.
»Nein, wieso Streit? Disziplin.«
»Sie legen viel Wert auf Disziplin, nicht wahr?«, stellte Rosenbaum fest.
»In dieser Anstalt werden die jungen Damen auf den Beruf der Lehrerin vorbereitet. Das erfordert Disziplin, damit Disziplin weitergegeben werden kann.«
»Dann hatte das Fräulein Lettow-Vorbeck also die Absicht, Lehrerin zu werden?«, wollte Gerlach wissen, während Rosenbaum noch darüber nachdachte, ob nicht ein Zirkelschluss vorlag.
»Die wenigsten unserer Absolventinnen werden später in diesem Beruf tätig sein.«
»Sondern?«
»Sie heiraten.«
Seit alters her bestand noch immer der Lehrerinnenzölibat. Eine Frau, die im öffentlichen Dienst Beschäftigung als Lehrerin finden wollte, durfte nicht verheiratet sein, trotz Weimarer Verfassung und SPD-Regierung. So war ein Lehrerinnenseminar nur eine verkappte Aufbewahrungsanstalt für höhere Töchter zur Überbrückung der Zeit bis zur Heirat. Nicht selten wurden nur diejenigen später Lehrerinnen, die zu wenig Haut im Gesicht hatten, um einen Mann erkennbar anzulächeln.
»Die Schülerinnen müssen sich abmelden, wenn sie das Haus nach sechs Uhr abends verlassen wollen«, sagte Fräulein Gosch-Fassbinder.
»Jetzt ist es halb acht«, stellte Gerlach fest.
»Mangelnde Disziplin, Herr Kommissar, mangelnde Disziplin. Man sieht ja, wohin das führt.«
Ein wenig mehr Mitgefühl hatte Rosenbaum erwartet, aber vielleicht fehlte auch etwas Haut am Herzen.
»Zeigte sich die Disziplinlosigkeit von Fräulein Lettow-Vorbeck und Fräulein Fährbach auch in anderen Dingen?«
»Fräulein Fährbach wollte sich zum Schülerinnenrat wählen lassen.«
Es könnte sein, dass sich ein Hauch von Ekel auf dem Gesicht der Hausdame zeigte. Es könnte aber auch Einbildung sein.
»Räte, Beiräte, das sind neumodische, undeutsche, revolutionäre Marotten. Was für eine Idee: Die Schüler sollen die Lehrer beraten?«
»Es soll wohl so eine Art Interessenvertretung sein …«, meinte Gerlach.
»Im Interesse unserer Schülerinnen liegt es, eine gute Ausbildung zu genießen. Und dazu müssen sie ihren Lehrern gehorchen und nicht sie beraten.«
Ein Kreischen, vom Korridor her, gerade als der Kommissar fragen wollte, welcher Schrank dem Opfer gehörte. Sie stürzten hinaus, die Hausdame voran. Eine Treppe tiefer saß ein blondes Fräulein auf einer Holzbank, schluchzte und kramte in ihrem Täschchen nach einem Taschentuch. Ein anderes Fräulein kniete vor ihr und tätschelte ihr Knie.
»Was ist da los?« Wie ein aufziehendes Unwetter stieg Fräulein Gosch-Fassbinder die Treppe hinunter, näherte sich in gemäßigtem Tempo dem blonden Fräulein, bedrohlich und unaufhaltsam.
»Ich habe ihr von Katharina erzählt«, sagte das kniende Fräulein und erhob sich, das blonde Fräulein erhob sich ebenfalls.
»Du hast dich nicht abgemeldet«, sagte die Hausdame zu der Blonden.
»Entschuldigung, Fräulein Gosch-Fassbinder. Das habe ich vergessen.«
»Wo bist du gewesen?«
»Bei meinem Verlobten. Er hat mir ein Kapitel seiner Dissertation in die Maschine diktiert.«
Maschineschreiben gehörte auf einem humanistischen Gymnasium für Jungen natürlich nicht zu den Unterrichtsfächern, wohl aber für Mädchen auf einem Oberlyzeum.
Der Kommissar ging auf das blonde Fräulein zu und stellte sich zwischen sie und die Hausdame, nicht ohne einen missbilligenden Blick hinter sich zu werfen.
»Ich bin Kriminalkommissar Rosenbaum. Sie sind Fräulein Fährbach?«
»Ja. Desdemona Fährbach, aber alle sagen Mona