Kieler Courage. Kay Jacobs
störe, und vielleicht gefiel es ihr sogar ein wenig. Auch Rosenbaum störte es nicht, nur Charlottes Meinung war ihm wichtig. Er hatte ihr versichert, dass er mit der Zeugung des Kindes nichts zu tun hatte, und sie hatte ihm geglaubt, jedenfalls hatte sie gesagt, dass sie ihm glaube – und wenn sie es vielleicht doch nicht tat, dann hatte sie ihm verziehen.
»Seit der Geburt heult Hedi viel«, sagte neulich die Mutter zu Rosenbaum. Wenn er zu Besuch war, heulte sie nicht. Die Mutter nahm es als Zeichen, dass er ihr und dem Kind guttue. Das sagte sie ihm auch. Rosenbaum hatte von solchen Eigenartigkeiten gelesen und er hatte es damals auch bei Charlotte bemerkt. Während der Schwangerschaft benahmen sich Frauen oft eigenartig, nach der Schwangerschaft waren sie unberechenbar. Doch ein paar Wochen später würde das vorbei sein. Seit Davids Geburt waren inzwischen etliche Wochen vergangen.
Als die Eltern die Tür hinter sich zugezogen und Hedi mit David ausreichend unartikulierte Laute ausgetauscht hatten, knöpfte sie ihre Bluse auf und David strampelte vor lauter Vorfreude auf die nächste Mahlzeit. Sie gab sich vollständig ungeniert, weder hielt sie das Kind so, dass Rosenbaum von ihren Brüsten möglichst wenig sehen könnte, noch stellte sie sie zur Schau, sie bewegte sich, als wäre sie mit dem Kind allein. Rosenbaum versuchte, nicht unverschämt hinzusehen und nicht verschämt wegzusehen, doch im Grunde tat er beides.
»Wieso haben ihre Eltern sie mitten im Schuljahr auf eine neue Schule geschickt?« Hedi unterbrach die Frage mehrmals, um mit den Lippen zu schürzen.
Rosenbaum brauchte etwas Zeit, um sich darüber klar zu werden, dass Hedi nicht von David oder ihren Brüsten sprach. »Würde mich auch interessieren«, sagte er schließlich.
»War sie denn vorher schon in Kiel?«
»In Schwerin. Wo die Eltern leben.«
Jetzt schürzte auch Rosenbaum seine Lippen. Er beugte sich vor, strich mit dem Zeigefinger über Davids Wange, der sich darum nicht scherte, sondern nur an seiner Nahrung interessiert war. Fast hätte Rosenbaum Hedis Brust berührt, verlegen zog er die Hand zurück.
»Aber wie kann man sich das vorstellen: ein Raubmord am Kleinen Kiel, am helllichten Tag? Hat der Täter ihr die Handtasche weggerissen, durchstöbert, den Umschlag mit dem Geld herausgenommen, das Portemonnaie aber drin gelassen, die Tasche sorgfältig wieder verschlossen, ihr umgehängt und sie dann ins Wasser gestoßen?«
»Eigenartig, nicht? Sie muss ihn gekannt haben. Ein Streit? Um Geld?«
David wechselte die Seite.
»Gerlach hat ein Rezept in ihrem Nachttisch gefunden, das sie noch nicht eingelöst hat.« Rosenbaum zog es aus der Tasche, fast hätte er es dort vergessen. »Von einem Dr. Max Stapelhöhe, praktischer Arzt, Dahlmannstraße.«
»Max Stapelhöhe – würde eher zu einem Lagerarbeiter passen, nicht?« Hedi nahm das Rezept und schaute es sich an. »Onopordum-Extrakt, das kenne ich. Das habe ich auch mal genommen. Wegen meiner Kreislaufprobleme in der Schwangerschaft. Hat nicht geholfen. Homöopathie. Alles Hokuspokus. Au!«
David hatte seine Sättigungsgrenze erreicht, was er im Allgemeinen dadurch kundzutun pflegte, dass er seiner Mutter in die Brustwarze biss. Hedi reichte das hinterhältige Verdauungspaket Rosenbaum herüber, der es sich mit ein paar Leinentüchern bewaffnet über die Schulter legte. Die drei waren ein eingespieltes Team.
»Die Zimmergenossin verhält sich eigenartig. Sie verheimlicht irgendetwas«, sagte Rosenbaum und klopfte David auf den Rücken. »Vielleicht könnten Sie mal mit ihr sprechen?«
»Klar, Chef. Mache ich, wenn Sie wollen.«
Dass die beiden sich trotz all der Vertrautheit noch immer siezten, wirkte auf jeden, der es mitbekam, einigermaßen befremdlich. Nicht nur die Eingeweihten, die Familie, die Nachbarn oder der Pastor wunderten sich, auch Fremde, man spürte ein persönliches Band zwischen ihnen, das zu dieser förmlichen Anrede partout nicht passte. Aber beide wollten es so, Hedi, weil sie die feste Absicht hatte, wieder als seine Assistentin zur Polizei zurückzukehren, Rosenbaum, weil er hoffte, auf diese Weise eine zu große Nähe verhindern zu können.
Nach ein paar Rülpsern war David bereit für den Verdauungsschlaf, und für Rosenbaum war es Zeit zum Aufbruch. Im Flur streifte er seinen Mantel über, zog einen Zwanzigmarkschein aus seinem Portemonnaie und legte ihn beiläufig auf die Kommode. Hedi beachtete es nicht. Nachher würde sie den Schein in einen Briefumschlag legen, zu den anderen Scheinen, die Rosenbaum auf der Kommode hinterlassen hatte, bei seinem letzten Besuch und dem vorletzten und allen Besuchen seit sieben Monaten, seit Davids Geburt. Sie hatte ihm gesagt, dass sie kein Geld von ihm haben wolle, und sie hatte angekündigt, dass sie das Geld, das er ihr trotzdem geben würde, sammeln und ihm zurückgeben werde. Auf sein Verhalten hatte das keine Auswirkung. Denn David hatte keinen Vater, der Alimente zahlen würde. Rosenbaum hatte nie danach gefragt, er wusste nicht, wer der Erzeuger war, und Hedi hatte es ihm nie erzählt. Doch es stand für Rosenbaum fest: Einen anderen Vater als ihn gab es nicht, brauchte es auch nicht. Und wenn Hedi ihm das Geld tatsächlich eines Tages zurückgeben würde, dann würde er damit ein mündelsicheres Sparbuch für David anlegen.
III
»Was heißt ›verschwunden‹?«
»Also … nicht mehr da.«
»Sie veralbern mich gerade.«
»Nein.«
»Sie ist weg?«
»Ja … verschwunden eben.«
Es war Freitagvormittag, der 12. März 1920. Es war nicht etwa Freitag, der 13., auch nicht der 1. April, sondern nur irgendein Freitagvormittag in der Blume. Rosenbaum setzte sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch. Eigentlich sank er eher auf den zufällig hinter ihm stehenden Stuhl und wirkte dabei wie ein Schlachtschiff, das einen schweren Treffer abbekommen hatte, dann sank und auf einer Sandbank aufsetzte, bevor es auseinanderbrach und vollständig unterging. Schon einmal war Rosenbaum in dieser Weise auf seinen Stuhl gesunken, als vor elf Jahren ein Polizeibote verschwunden war. Doch jetzt überbrachte Gerlach keine Information über einen verschwundenen Lebenden, sondern über eine abhandengekommene Tote, eine ganz bestimmte auch noch: Der Leichnam von Katharina von Lettow-Vorbeck war verschwunden.
Gerlach schloss die Tür und setzte sich vor Rosenbaums Schreibtisch. Er war erkennbar aufgebracht gewesen, hatte sich allerdings wieder ein wenig beruhigt.
»Ich habe in der Gerichtsmedizin angerufen, um zu fragen, wann wir den Obduktionsbericht bekommen können. Professor Ziemke sagte, er sei gerade erst in die Klinik gekommen, habe sich vorgenommen, mit der Obduktion zu beginnen, und der Bericht würde gegen Mittag fertig sein. Fünf Minuten später rief er an und sagte, die Leiche sei weg, sein Sektionshelfer habe sie schon am frühen Morgen dem Militär übergeben.«
»Wie? ›Dem Militär übergeben?‹«
»Er sagt, vor der Tür stand plötzlich ein Sanitätswagen des Heeres und die Fahrer hatten eine Übernahmeanordnung der Reichswehr-Brigade 9 dabei. Der Sektionshelfer soll sich noch aufgeregt haben, weil eine Leiche nicht in einen Sanitätswagen gehöre. Aber er fügte sich, als der Fahrer sagte, dass in seinem Wagen schon fast so viele Tote wie Verletzte transportiert worden seien und dass darin auch oft ein Verletzter erst zu einem Toten wurde.«
Rosenbaum schaute in seine Kaffeetasse, die noch vom Vortag halb leer auf seinem Schreibtisch gestanden hatte. Wäre Hedi noch da gewesen, wäre das nicht passiert.
»Ich habe nachgeschaut«, fuhr Gerlach fort. »Die Reichswehr-Brigade 9 des Übergangsheeres ist in Schwerin stationiert. Der Kommandant ist zugleich der Militärgouverneur von Mecklenburg und Holstein: Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck.«
Das ergab Sinn. Der Kommissar klopfte die Taschen seines Sakkos und der Hose nach Zigaretten ab, wurde bei der Brusttasche fündig und steckte sich eine an. Er war zu Massary Delft gewechselt, die gute Massary, edel wie der Name, ein stilvoller Ersatz für die Zigarren, die er früher geraucht hatte, und derzeit das Einzige, was man ohne größere Mühe bekommen konnte. Dann griff er zum Telefonhörer, ließ sich eine Verbindung mit der Reichswehr-Brigade 9 herstellen, und nach einer Minute