Loslassen. Группа авторов

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fast eher sagen, dass ich dich liebe, als dass ich jemals in dich verliebt war.“ Das hatte ich am Ende zu Leon gesagt. Danach hatte er die Zimmerpflanze geholt, deren Ableger er nun seit Wochen für mich gezüchtet hatte. Letzte Woche war meine Mutter bei mir zu Besuch. Wir hatten uns beide darauf gefreut, sie etwas mehr als ich, das ist wohl normal. Sie kam die Treppen zu meiner Wohnungstür hoch, ich blieb in der Tür stehen und schrie fast: „Mama, ich muss dir gleich was sagen! Ich will mich von Leon trennen!“ Gut, dass es raus war, jetzt konnte ich sie auch reinlassen. Sie war überrascht, versuchte ihre Enttäuschung mit einem aufmunternden Lächeln zu überdecken und ließ sich auf einen meiner Küchenstühle fallen. Die arme Frau, wahrscheinlich hatte sie sich darauf gefreut, dass nun endlich – endlich – auch mal ihre jüngste Tochter unter die Haube kam, hatte doch ihre älteste vor einem Monat erst geheiratet. Naja, dachte ich mir, immerhin halte ich dich auf Trab, dann wirst du auch nicht so schnell alt. Als sie mich fragte, warum denn, da begann ich meinen Satz – zugegeben, ich habe meiner Mutter nur die halbe Wahrheit erzählt – mit:

      „Wir sind uns einfach viel zu ähnlich …“ Sie unterbrach mich mit ihrem Lachen. Ich wusste, woher es rührte. Sie und mein Vater, immer noch verheiratet, sind so unglaublich unterschiedlich, dass ich bis heute nicht verstehe, wie die zwei es miteinander aushalten. „Ich weiß, Mama, man will halt immer das, was man nicht hat.“ Sie hatte ihre Hand an den Mund gelegt und lächelte, verwirrt, aber sogar vielleicht ein wenig verständnisvoll. Das, was man nicht hat … Was habe ich denn nicht? Beginnen wir vielleicht eher damit, wie unterschiedlich Dinge in der Theorie und in der Praxis aussehen können. Ich bin jetzt Mitte zwanzig, habe einen fantastischen Job, eine eigene Wohnung (Gott bewahre, wie ich diese ganzen Schulden jemals abbezahlen soll), und wie würde mein bester Freund Stefan, natürlich schwul, sagen; ich bin wohl ziemlich heteronormativ (was ziemlich beleidigend ist übrigens, aber dieses Fass will ich hier nicht aufmachen!). Ich habe in meinem Leben schon vieles erlebt, früher was Jungs angeht, heute was Männer angeht – gut, teilweise immer noch eher Jungs. Sicher waren das nicht bloß positive Erfahrungen, viele gebrochene Herzen – meistens meines –, viele vergessene Nächte und grausame Kater an darauffolgenden Morgen. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich irgendetwas verpassen würde in meinem Leben oder irgendetwas noch nicht gemacht hätte. Gut, ich könnte vielleicht mal mit einer Frau schlafen, um es mal auszuprobieren. Wie heteronormativ findest du das jetzt, Stefan? Ich schweife ab. Was ich eigentlich damit sagen will, ist, dass ich das Gefühl hatte, ich wäre bereit für eine Beziehung. Ich hatte das Gefühl wirklich, vor allem, dachte ich, wenn der Richtige kommen würde. Und eines war Leon sicher irgendwie: der Richtige. Und auch wenn ich diese Ansicht selber vertrete, oder vielleicht gerade weil ich das tue, war er wohl nicht der Richtige für diesen Moment. Ich dachte tatsächlich, ich könnte mein altes Ich hinter mir lassen, nicht völlig, sondern nur ein bisschen, etwas ernster werden, mich auf die wichtigen Dinge im Leben konzentrieren, wie Verständnis, Partnerschaft, Vertrauen … Hier ein kleiner Spoileralarm: Ich konnte es nicht. Man will halt immer das, was man nicht hat … Oh und wie ich wollte! Er sah die ganze Zeit in den Himmel, sein starker, breiter Männerrücken war mir zugewendet. Fast ein bisschen unbeholfen, der sonst so standfeste Macker, der mir immer Konter gab. Ich musste mich manchmal fast konzentrieren, um ihm zu antworten, wie in einem Debattierclub. Eigentlich habe ich keine Ahnung, was man in einem Debattierclub macht, ich war noch nie in einem. Aber er drehte sich immer wieder zu mir um und sah mir in die Augen, diese verruchten Augen, die mir ganz kurz Einblicke in sein wirkliches Ich verschafften, seinen weichen Kern. Es machte mich wahnsinnig, wie gut mir das gefiel. Und wie gut es mir gefiel, obwohl ich wusste, dass Kerle wie er es auf jeden Fall draufhatten, Frauen das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein, indem sie so taten, als würden sie ihnen etwas anvertrauen, was sie bei anderen nicht tun würden. Ich kenne das und durchschaue es. Vor allem, weil es eine Masche ist, die ich selber gerne mal bei dem ein oder anderen Kerl angewandt habe. Nur leider konnte ich in diesem Moment rein gar nichts durchschauen. Ich konnte nicht einmal klar denken. Mein Verstand hatte sich völlig verabschiedet. Jedes Mal wenn er sich wieder zu mir drehte, dachte ich mir nur Küss mich endlich, du Idiot! Warum küsst du mich denn nicht? Ich gestehe – wenn ich jetzt so darüber nachdenke – es war nicht die romantischste Kulisse. Sonntagabends auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums, zwei Schachteln Zigaretten und zwei Dosen Halbe neben uns. Das geht besser. Aber selbst dieser seelenlose Ort wurde irgendwie zu etwas Besonderem, dadurch, dass Keller sagte, es sei sein Lieblingsplatz in diesem gottverlassenen Vorort, dadurch, dass die Sonne gerade unterging und er mit einem verschmitzten Lächeln bemerkte: „Na, jetzt wird’s hier noch ganz schön romantisch zwischen uns, oder wie?“

      „Ach halt die Klappe, Keller!“, antwortete ich. Aber natürlich gefiel es mir, und natürlich hatte Keller, ein Kerl, der mit Ach und Krach seinen Realschulabschluss geschafft hatte, sofort bemerkt, dass es das tat. Wie gesagt, der Unterschied zwischen intellektuell und intelligent. Und ich war in diesem Moment irgendwie keines von beidem. Als wir irgendwann auf die Uhr sahen und bemerkten, dass wir beides hatten; mehrere Anrufe in Abwesenheit und die Zeit vergessen, sind wir wieder ins Auto gestiegen, um nach Hause zu fahren. Zu den anderen. Die nichts merken durften. Ich musste das alles erstmal für mich ordnen, bevor ich das irgendjemandem erzählen konnte. Und so oder so wollte ich bestimmt nicht, dass das halbe Dorf darüber Bescheid wusste – was sie natürlich nun trotzdem tun. Es hatte mich schon auf eine gewisse Weise heißgemacht, wie Keller sich den Rücksitz in die hinterste Stufe gestellt hatte, als er eingestiegen war. Dass nun seine ewig langen, muskulösen Beine neben mir saßen, während er mir die ganze Zeit an die Brust fasste, obwohl ich am Fahren war, machte es nicht besser.

      „Fahr da rein!“, sagte er. Mit diesem Befehlston, den ich hasse, aber natürlich – ich schüttele beim Gedanke daran genervt den Kopf – gleichzeitig ziemlich heiß finde. Sokrates, mein Therapeut, meinte, nachdem ich ihm alles erzählt hatte, mir würde vielleicht eine gewisse Dominanz fehlen, und dass ich meiner devoten Seite ruhig mehr Platz einräumen soll. Da das für mich alles ein wenig zu sehr nach BDSM klingt, unterlasse ich es mal, hier diese Begriffe zu verwenden. Denn ja, Stefan! Ich bin wohl etwas heteronormativ.

      „Nein, was soll das?! Ich fahr doch nicht da rein! Ich fahre hier gerade, oder fährst du etwa?“ Ich konnte das nicht ganz so überzeugend rüberbringen wie gewollt, da ich kichern musste, eigentlich über meine eigene Dummheit. „Das ist ein Schleichweg, das geht schneller, du fährst jetzt da rein!“ Gut, Schleichweg also. Was die Begrifflichkeit eines Weges im Sinne von befahrbar angeht, haben Jungs vom Dorf wohl eine andere Definition als ich. Das Auto ruckelte über den steinernen Weg. Was hatte ich da gerade getan? Und warum war meine einzige Sorge nur, wann wir es wiederholen oder fortführen könnten? Was war mit Leon? Dem lieben Leon …

      „Wenn wir jetzt nach Hause kommen, müssen wir uns was ausdenken, was wir den anderen erzählen können!“, sagte ich. Erst Emotionen, dann Planen – typisch für mich! Keller schaute ein wenig verwirrt – verwirrt war der wohl oft, so hohl wie der war! Ihm war wohl gerade bewusst geworden, dass wir nun nicht einfach auf mein Zimmer verschwinden und einfach weitermachen würden, als er sich zu mir umdrehte, mich ansah, und einfach so in voller Fahrt die Handbremse zog. Für meine Empörung war gar keine Zeit, er packte mich und küsste mich. Er zog mich fest an sich ran, biss mir zärtlich in die Lippe. Ein Stromschlag zuckte durch meinen ganzen Körper.

      „So, jetzt ist gut, jetzt können wir gehen.“ Gerne hätte ich hier so etwas erwidert wie Was denkst du eigentlich, wer du bist, hier die Handbremse zu ziehen, während ich fahre oder Hast du sie noch alle? Entscheidest du jetzt, wann gut ist und wann wir fahren können? Nur leider brachte ich nichts weiter raus als ein Kichern. Wie eine Zwölfjährige. Lächerlich.

      „Es kommt wohl ein Sturm auf!“ Der ältere Herr neben mir sieht mich nun besorgt an. Jetzt will er also reden, der Alte? Ich nicke kurz und schließe die Augen. Nach unserem ersten Kuss damals, in Leons Bett, fühlte ich mich gut. Ganz ruhig, irgendwie. Er nahm mich in den Arm und gab mir, als ich neben ihm lag, einen Kuss auf die Stirn. Du Jamais Vue2 in meinem Leben, hatte doch bisher niemals ein Typ mich beschützt. Ich war die Beschützerin, die Reglerin, die Problemlöserin gewesen. Niemals hatte ich mich einfach fallen lassen und darauf vertrauen können, dass sich jemand nun auch um mich kümmern würde. Ich konnte nicht so recht einordnen, was das bedeuten würde, nur eben,


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