Loslassen. Группа авторов
Das Dienstgebäude der Kriminalpolizeiinspektion war so konzipiert, dass sich keine abgeschlossenen Büros an dunkle, lange Flure angliederten. Stattdessen waren die Büros mit raumhohen Glaswänden ausgestattet und um eine sogenannte Kombizone herum gebaut. Diese Anordnung hatte nicht nur den Vorteil, dass die Räume lichtdurchflutet waren, sondern sie förderte ebenso die Transparenz der Arbeitsabläufe wie die Kommunikation zwischen den Kollegen.
Im Kommissariat 11, das sich mit Straftaten gegen Leben und Gesundheit beschäftigte, war die Kombizone als Besprechungs- und Konferenzbereich eingerichtet. Hier fanden nicht nur die regelmäßigen Dienstbesprechungen statt, sondern bei Bedarf tagten hier auch die Mord- und Sonderkommissionen. An einer der Stirnseiten war ein Smartboard angebracht, mit dessen Hilfe wichtige Ermittlungsergebnisse, Tatortaufnahmen und andere relevante Dokumente für alle Anwesenden sichtbar gemacht werden konnten.
In den vergangenen zehn Minuten hatten sich hier zwei Dutzend Beamtinnen und Beamte eingefunden. Sie gehörten zur Sonderkommission „Leonie“.
Um Punkt 08:00 Uhr fehlte nur noch der Leiter der Sonderkommission, Kriminalhauptkommissar Bernd Alme. Einige der Beamten drehten den Kopf immer wieder und schauten durch das Glas in Almes Büro, doch sein Ledersessel war leer.
Als Hauptkommissar Alme endlich erschien, verstummten die Gespräche schlagartig. Alme trat an den Kopf des Konferenztisches, legte einen prall gefüllten Aktenordner vor sich hin und klopfte verheißungsvoll auf den Pappdeckel. „Ich bin heute Nacht einen riesigen Schritt vorangekommen. Erinnern Sie sich an den Namen Frank Schüssler?“
Die Kommissarin Finja Kröger konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. „Frank Schüssler?“, schoss es aus ihr heraus. „Was soll Schüssler mit dem verschwundenen Mädchen zu tun haben?“
Berlin, 9 Jahre zuvor
„Wir dürfen keine Zeit verlieren!“, ermahnte Kommissarin Finja Kröger ihre Kollegen und klopfte energisch an die Tür.
„Ich verstehe nicht, warum so etwas ausgerechnet in meiner Schicht passieren muss!“, hörte sie jemanden hinter sich murmeln. Ein Weiterer raunte: „Wir hätten heute Nachmittag schon nach Leipzig fahren sollen!“
„Das Landeskriminalamt hat die Freigabe für den Ortswechsel erst jetzt erteilt“, erwiderte Finja Kröger knapp und stieß die Tür auf. Dann betraten die Polizeibeamten den Raum, in dem sie Frank Schüssler einige Tage zuvor provisorisch untergebracht hatten. Auf dem Linoleumboden lag eine Matratze, links waren an der Wand mehrere Umzugskartons abgestellt, rechts zeugten ein Campingtisch und eine Kühltasche davon, dass der Aufenthalt nicht von Dauer sein sollte.
In der Mitte des Raumes saß Frank Schüssler auf einem Klappstuhl. Er hatte den Rücken zur Tür gewandt und hielt den Controller einer Playstation in den Händen. Er hatte Kopfhörer aufgesetzt und bewegte seinen Oberkörper ruckartig hin und her. Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie mehrere Soldaten eine zerstörte Stadt im Laufschritt durchkämmten. Sie feuerten fortwährend mit ihren Waffen. Jeder Treffer wurde mit großen Mengen Blut quittiert.
Finja Kröger verteilte die Aufgaben: „Klaus, Du nimmst einen der Pappkartons und verstaust die Playstation samt Kabeln. Tim, Du nimmst den Campingtisch und den Klappstuhl. Ich trage die Kühltasche. Den Bildschirm kann Schüssler selbst zu den Autos schleppen. Der Rest bleibt erst einmal hier. Die Kollegen können das Zeugs später nach Leipzig bringen.“
„Und was soll ich machen?“, fragte Polizeimeister Kai Wessling. Er war der jüngste Beamte im Team.
„Du sprichst mit Schüssler. Du kommst am besten mit ihm klar.“
Wessling nickte, durchquerte den Raum und baute sich so vor Schüssler auf, dass dieser nicht mehr auf den Bildschirm sehen konnte. „Herr Schüssler?“
„Verpiss dich!“, brüllte Schüssler. „Noch zehn Minuten, dann habe ich den Prestige-Rang!“
„Wir müssen jetzt leider Ihre Sachen packen! Die Zeit drängt!“ Ohne Schüsslers Reaktion abzuwarten, ging Wessling zum Bildschirm und trennte die Verbindung zur Playstation.
„Du blödes Bullenschwein!“, schrie Schüssler und sprang auf. Er riss sich die Kopfhörer von den Ohren und schmetterte sie gegen die Wand. „Verdammtes Dreckspack!“
Daraufhin nickte Wessling seinen Kollegen zu: „Wir wären dann soweit.“
Leipzig, Dimitroffstraße Kriminalpolizeiinspektion Dienstag, 11:05 Uhr
„Wie kommen Sie ausgerechnet auf Frank Schüssler?“, wollte Kommissarin Finja Kröger wissen. Ihre Verblüffung war nicht zu überhören.
Hauptkommissar Bernd Alme setzte sich, schaltete seinen Laptop an und rief eine Powerpoint-Präsentation auf. Nur wenige Augenblicke später erschienen die Bilder zweier junger Frauen auf dem Smartboard.
„Links sehen Sie eine Aufnahme von Susann Meissner. Sie war Frank Schüsslers erstes Opfer. Im Jahr 1985 wurde er wegen Vergewaltigung und Totschlags zu 13 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Rechts sehen Sie die vermisste Leonie Schenk.“
Ein Raunen ging durch den Besprechungsraum.
Finja Kröger war die einzige, die vehement den Kopf schüttelte. „Die Ähnlichkeit der beiden ist zwar verblüffend, trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Frank Schüssler etwas mit Leonies Verschwinden zu tun hat.“
Autobahn A 9 zwischen Berlin und Leipzig, 9 Jahre zuvor
„Ich mag Leipzig sehr“, sagte Kommissarin Finja Kröger, während sie den Dienstwagen über die Autobahn lenkte. Mit einem Lächeln blickte sie hinüber zu Polizeimeister Kai Wessling und zeigte dabei auf ein Verkehrsschild, das gerade an ihnen vorbeizog: Herzlich willkommen in Sachsen.
„Ich auch“, erwiderte Wessling. „Aber unter diesen Umständen hätte ich gut auf einen Besuch verzichten können. Wir wechseln unseren Aufenthaltsort mittlerweile zum fünften Mal innerhalb kürzester Zeit.“
Finja Kröger nickte. „Die Presse ist uns ständig auf den Fersen. Je länger das Versteckspiel dauert, desto schwieriger wird es.“
Wessling seufzte und drehte sich um. Er blickte Frank Schüssler an, der auf der Rückbank saß. „Waren Sie schon einmal in Leipzig?“
Keine Reaktion.
„Kennen Sie das Völkerschlachtdenkmal?“
Wiederum keine Reaktion.
„Von der Aussichtsplattform hat man einen großartigen Blick auf die Stadt und das Umland.“
Schüssler blickte Wessling für einen kurzen Moment an: „Nur zehn Minuten. Dann hätte ich den Prestige-Rang erreicht.“
„Und im Café Kandler gibt es ein sensationelles Kuchenbuffet“,
ergänzte Finja Kröger.
„Meine Kopfhörer sind kaputt“, erwiderte Schüssler.
Wessling drehte sich wieder nach vorne. „Wann kommen die
Kollegen, um uns abzulösen?“
„Erst einmal müssen die übrigen Einsatzkräfte von Berlin nach Leipzig verlegt werden“, antwortete Finja Kröger. „Ich denke, dass wir morgen Abend wieder in den normalen Schichtdienst zurückkehren werden.“
„Weißt du, worauf ich mich am meisten freue?“
Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“
„Die Leipziger Lerchen.“
Leipzig, Dimitroffstraße Kriminalpolizeiinspektion Dienstag, 11:10 Uhr
Hauptkommissar Bernd Alme zog die Augenbrauen zusammen und fixierte Finja Kröger. „Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“
„Ein