Loslassen. Группа авторов

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noch einmal auf die Fotos. „Ich erinnere mich, dass Schüssler sich mit Händen und Füßen gegen seine Entlassung gewehrt hat. In den Akten wird er wie folgt zitiert: Ich bin schneller zurück, als ihr Bullenschweine denkt. Notfalls schlachte ich wieder jemanden ab!“

      Finja Kröger runzelte die Stirn. „Die Äußerung ist darauf zurückzuführen, dass seine Impulskontrolle sehr eingeschränkt ist.“

      „Soso“, kommentierte Alme, „eine eingeschränkte Impulskontrolle.“ Die Ironie, die in seiner Stimme mitschwang, war ungewohnt deutlich.

      Ein verhaltenes Gelächter ging durch den Besprechungsraum.

      „Also … ich meine … rein verbal“, versuchte Finja Kröger zu erklären.

      „Sie werden verstehen, dass ich mich in diesem Fall nicht auf Ihr Bauchgefühl verlassen möchte.“

      Sie seufzte.

      „Ich denke, Sie sind am allerbesten geeignet, Verbindung mit ihm aufzunehmen“, sagte Alme.

       Leipzig, Innenstadt, 9 Jahre zuvor

      Frank Schüssler hatte sich in einem Elektrogeschäft neue Kopfhörer ausgesucht und drückte sie der Kassiererin wortlos in die Hand.

      „Bar oder Karte?“, wollte sie von ihm wissen.

      Wortlos zog er sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und nahm eine Girocard heraus. Zuerst studierte er das Kartenlesegerät ganz genau, dann führte er die Girocard umständlich in das Gerät ein.

      Die Kassiererin schüttelte daraufhin den Kopf. „Magnetstreifen unten links. Dann die PIN und mit grün bestätigen.“

      Schüssler trat einen Schritt zur Seite. Hilfesuchend blickte er sich zu Finja Kröger und Kai Wessling um, die jeden seiner Schritte beobachteten. Die beiden Beamten kamen zur Kasse, und Wessling zeigte auf das Kartenlesegerät: „Wenn Sie sich den Aufkleber genau ansehen, können Sie erkennen, wie die Karte eingesteckt werden muss. Bei diesem Gerät mit dem Magnetstreifen unten links. Mit der PIN meint die Dame Ihre Geheimzahl. Erinnern Sie sich an die vier Zahlen?“

      „3-7-5-9“, erwiderte Schüssler und nickte. Dann führte er die Plastikkarte korrekt in das Gerät ein und bediente das Zahlenfeld.

      „Jetzt müssen Sie die Eingabe mit dem grünen Knopf bestätigen.“

      „Das ist alles eine neumodische Scheiße hier! Ihr Vollidioten hättet mich einfach dort lassen sollen, wo ich hingehöre!“

       Leipzig, Dimitroffstraße Kriminalpolizeiinspektion Dienstag, 11:15 Uhr

      Die Dienstbesprechung war beendet. Finja Kröger saß in ihrem Büro und wählte die Nummer von Frank Schüssler.

      Er nahm das Gespräch sofort an.

      „Herr Schüssler, können wir uns treffen?“

      „Wann?“

      „Jetzt.“

      „Wo?“

      „Wie immer?“

      „Ja, ist okay.“

      Kurz nachdem Finja Kröger das Gespräch beendet hatte, klopfte ein Kollege an ihre Tür. Sie bat ihn herein, und er stellte sich als Beamter des Spezialeinsatzkommandos vor. Er hatte den Auftrag, sie zu begleiten und für ihre Sicherheit zu sorgen.

      „Ich hätte gern ein paar Informationen, mit wem ich es zu tun habe“, sagte der SEK-Beamte, während Finja Kröger ihre Lederjacke anzog.

      „Frank Schüssler ist 1985 wegen Vergewaltigung und Totschlags zu einer dreizehnjährigen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt worden. Während der Haft und der anschließenden Sicherheitsverwahrung hat er jede Form von Therapie verweigert. Daher ist die Sicherheitsverwahrung mehrmals unbefristet verlängert worden. Im Jahr 2011 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die unbefristete Verlängerung der Sicherungsverwahrung für rechtswidrig erklärt. Daher musste Schüssler aus der Justizvollzugsanstalt entlassen werden. Er selbst wollte gar nicht zurück in die Freiheit.“

      „Man hat ihn sozusagen rausgeschmissen?“

      „Er hat damals um eine Vorbereitungszeit gebeten, um sich überhaupt wieder an ein Leben in Freiheit gewöhnen zu können. Selbst das wurde abgelehnt.“

      „Ich habe gehört, dass Sie noch immer eine Verbindung zu ihm haben?“

      „Wir haben Frank Schüssler ein halbes Jahr lang mit zwei Dutzend Polizeibeamten jeweils in Vierer-Teams rund um die Uhr bewacht. Das Landeskriminalamt ging damals davon aus, dass er eine tickende Zeitbombe ist. Schlussendlich war er ein gebrochener Mann, und wir mussten ihn vor der Presse und der Gesellschaft schützen. Wir haben ihm geholfen, zumindest ein wenig in ein geregeltes Leben zurückzufinden. Ich treffe ihn noch heute ein bis zwei Mal pro Jahr.“

      „Ist er in Leipzig geblieben?“ Finja Kröger nickte. „Ja, er hat bis heute kaum soziale Kontakte. Es gibt nur einen Hund, der ihn seit vielen Jahren begleitet. Ich unterstütze ihn gelegentlich bei Behördengängen.“

      „Glauben Sie, dass er mit dem aktuellen Fall zu tun hat?“ Sie schüttelte den Kopf vehement. „Nein, außerdem möchte ich allein mit ihm sprechen. Ich bin der einzige Mensch, zu dem er überhaupt Vertrauen hat. Das möchte ich nicht aufs Spiel setzen.“

       Leipzig, Thomaskirchhof Café Kandler Dienstag, 11:45 Uhr

      Finja Kröger betrat das Café. Sie erkannte Frank Schüssler sofort. Mit dem schütteren Haar, den eingefallenen Wangen und dem rotkarierten Holzfällerhemd sah er immer noch genauso aus wie früher.

      Sein Schicksal fesselte sie bis zum heutigen Tag, und gelegentlich trafen sie sich hier auf einen Kaffee. Dieser Ort stand symbolisch für die damalige Zeit, und sie unterstützte ihn bis heute bei Herausforderungen, die er nicht allein lösen konnte. So hatte sie beispielsweise dafür gesorgt, dass er Arbeitslosengeld bezog und in einer Sozialwohnung lebte.

      Finja Kröger ging zu Schüsslers Tisch, begrüßte ihn und kniete sich zu seinem Hund hinunter. „Hallo Timmy“, sagte sie zu dem Border Collie und streichelte über das warme Fell. Dann blickte sie Schüssler an. „Wie geht es Ihnen beiden?“ Sie erwartete keine ausschweifende Antwort, denn 27 Jahre Haft hatten aus Schüssler einen wortkargen Mann gemacht. Daran hatten auch die vergangenen neun Jahre in Freiheit nichts geändert.

      „Okay.“

      Einige Tische weiter saß der SEK-Beamte. Er hatte das Café bereits vor zehn Minuten betreten und gab sich den Anschein, er sei mit seinem Handy beschäftigt.

      „Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte Finja Kröger, während sie sich setzte. Schüssler nickte.

      Finja Kröger hatte sich während der Autofahrt den Kopf zerbrochen, wie sie das Gespräch auf das vermisste Mädchen lenken sollte. Auf der einen Seite wollte sie das Vertrauensverhältnis zu Schüssler nicht gefährden, auf der anderen Seite wollte sie unbedingt einen Weg finden, ihn als Täter auszuschließen.

      Noch ahnte sie nicht, dass dieses Treffen völlig anders verlaufen sollte, als sie in diesem Moment annahm.

       Leipzig, Dimitroffstraße Kriminalpolizeiinspektion Dienstag, 11:45 Uhr

      Zur gleichen Zeit wurde Kriminalhauptkommissar Bernd Alme vom Klingeln des Telefons aus seinen Gedanken gerissen. Er blickte von der Akte auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und sah auf das Telefon.

      Führungs- und Lagezentrum, las er im Display.

      Das Führungs- und Lagezentrum stellte die Leitstelle der Polizeidirektion Leipzig dar. Hier liefen alle Notrufe und Informationen zusammen. Egal ob Notarzt, Rettungswagen, Feuerwehr oder Polizei – die Kollegen der Leitstelle stellten die Kommunikation zwischen allen beteiligten Einsatzkräften sicher und sorgten somit für einen


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