Jäger der Finsternis. Rhya Wulf
schlucken, bevor sie antwortete:
„Aber warum ist er denn nur so?“
Laoghaire wiegte den Kopf.
„Gute Frage, aber schwierig zu beantworten. Er hat seine Gründe. Nicht alle kenne ich und nicht jeden will ich nennen, aber zumindest dies: Er hat sich vor den Menschen zurückgezogen, dorthin, wo ihn niemand finden kann, es sei denn, er wünscht es. Was nicht allzu oft der Fall ist. Nun, es liegt daran, dass er einmal zu oft jemanden verloren hat, den er geliebt hat. Du weißt, er lebt sehr viel länger als andere Menschen und da er nicht aus Eis oder Stein ist, hat er irgendwann wohl auch mal Gefühle für andere gehabt. Verstehst du, was ich sagen will? Er lehnt Bindungen zu anderen ab, weil er sie ja doch wieder verlieren wird. Und das kann er, so vermute ich, nicht mehr ertragen." Niam war während seines Vortrages immer trauriger geworden. Jetzt sah sie Laoghaire an und sagte:
„Aber das ist schrecklich! Jeder braucht doch Jemanden! Das…das ist doch einfach nicht richtig." Sie brach ab, weil ihr etwas eingefallen war.
„Du, Laoghaire, woher weißt du das denn alles? Du hast ihn seit damals auf Môn doch auch nicht mehr gesehen, das hast du selbst gesagt!" Er lächelte kurz und nickte zufrieden.
„Gute Auffassungsgabe und klug auch noch. Schön. Nun ja. Wie du weißt, liegt meine besondere Gabe darin, die Gefühle der Menschen sehen und verstehen zu können. Ich habe ihn jahrelang regelmäßig auf Môn gesehen, da kommt einiges zusammen. Und der Rest folgte hier bei euch. Der Wald…schwer zu beschreiben. Er strahlt etwas aus…Dunkelheit, ja. Aber nicht nur das. Da ist noch etwas anderes im Hintergrund, das die Dunkelheit verbergen soll. Wie ein Schild. Und dieses Andere ist, wenn ich mich nicht irre, eine große Leere und Traurigkeit…und noch etwas gänzlich anderes, aber das entzieht sich mir noch. Noch", fügte er mit funkelnden Augen hinzu. Niam sah ihn neugierig und wie gebannt an.
„Das würde ich auch gerne können!" Der Priester winkte ab.
„Wünsch dir das nicht. Es ist ein Geschenk, das ja. Aber es kann auch zu einer Last werden.“ Niam hatte den Apfel inzwischen aufgegessen und leckte sich den Saft von den Fingern.
„Erzählst du mir eine Geschichte über ihn? Du sagtest eben, dass er dort lebt, wo ihn niemand findet…ja, warum lebt er denn hier bei uns im Wald? Doch nicht nur, weil der als Versteck dient, oder?" Laoghaire nahm ihren und seinen Apfelrest und warf beide, ohne sich umzusehen, über die Schulter. Beide landeten zielsicher im Kessel, woraufhin Niam der Mund offen stehen blieb. Der junge Priester zwinkerte ihr zu und sagte:
„Ich sagte ja: klug.“ Dann lehnte er sich zurück.
„Tja, warum? Nun du hast Recht. Es gibt einen anderen Grund. Zunächst aber müssen wir festhalten, dass er nicht bei euch lebt, sondern ihr bei ihm. Er war schon lange da, bevor dieser Teil der Welt besiedelt wurde. Deine Ahnen haben irgendwann beschlossen, diesen Clan zu gründen, von seiner Anwesenheit wussten sie dabei nichts. Worum es aber geht, ist dies: Weißt du, unter Druiden gibt es eine Geschichte, mehr eine Legende. Euren Leuten ist sie nicht bekannt, einfach weil es hier zu jener Zeit niemanden gab, der sie hätte erzählen können. Es ist eine alte Legende und sehr düster. Vielleicht sogar zu unheimlich für ein kleines Ding wie dich?" Dieser letzte Satz klang unschuldig, allerdings wurde die vermeintliche Arglosigkeit durch das Funkeln in den braunen Augen des Priesters widerlegt.
Er wurde auch prompt belohnt, denn Niam rief sofort:
„Bestimmt nicht! Ich habe keine Angst, nicht wie die anderen albernen, kleinen Gänse hier. Ich liebe gruselige Geschichten und vor allem solche über den Zauberer!"
Natürlich, was sonst? Sie ging davon aus, dass selbst die unheimlichste Geschichte allein deswegen gut endete, weil ER mit dabei war.
„Bitte, Laoghaire ", bettelte sie, „erzähl die Geschichte! Bitte!" Der junge Mann grinste und hob die Hände.
„Schon gut, schon gut. Ich erzähle sie dir ja. Gegen so viel Begeisterung bin ich machtlos. Dann hör gut zu: Vor langer Zeit, niemand weiß heute mehr, wie lange es wirklich her ist, lebte im Alten Wald, der damals der Verfluchte Wald genannt wurde, an den Ufern eines kleinen, aber umso tieferen Sees ein Nekromant. Weißt du, was das ist?"
Kopfschütteln.
„Nun", fuhr Laoghaire fort, „ein Nekromant ist ein Totenbeschwörer. Überall auf der Welt gibt es solche Praktiken, aber hier bei uns hat der Zauberer sie verboten. Jener Nekromant also war ein mächtiger Druide, der die Toten wiedererweckte und sie zu seinen Sklaven machte. Aber nicht nur das: Er erlangte auch Macht über ihre Seelen, quälte und peinigte sie, wo er nur konnte. Manche sagen, er hätte die Seelen der Toten sogar verschlungen, um seine Macht zu stärken. Andere sagen, er habe sie zu Dämonen erhoben, die ihm seitdem Gefolgschaft leisten mussten. Eben diese Praktiken stellen aber von allen verwerflichen magischen Tätigkeiten die schlimmsten dar. Die Vernichtung der Seele hat zur Folge, dass sie den Zyklen der Wiedergeburt und damit der Möglichkeit nach Moy Mell, dem Land der Lebenden, zu gelangen, entrissen werden. Ihnen bleibt nur die ewige Leere. Eines Tages aber kam der Zauberer in den verfluchten Wald, um den Nekromanten zu stellen. Er fand ihn auch und sie kämpften gegeneinander. Der Kampf soll lang und hart gewesen sein, keiner wollte nachgeben, keiner konnte nachgeben. Es heißt, der Nekromant hätte seine Armeen der Untoten auf den Zauberer gehetzt, aber sie konnten ihn nicht besiegen. Er tötete die meisten von ihnen. Und dann erst stellte sich ihm ein Dämon in den Weg. Der Nekromant selbst hielt sich lieber fern, er fürchtete den Zauberer zu sehr. Na ja, der Zauberer soll vom Kampf gezeichnet gewesen sein, verwundet und erschöpft, aber er gab natürlich nicht auf. Es schien zu knapp zu werden und der Zauberer geriet in Bedrängnis. Immer mehr gewann der Feind die Oberhand, bis plötzlich, kurz bevor der Dämon zum finalen Schlag ausholen konnte, etwas geschah." Laoghaire unterbrach sich und sah Niam an, die gespannt lauschte. Dabei lugte ihre Zungenspitze ein wenig zwischen den Lippen hervor, was den jungen Priester kurz schmunzeln ließ. Bilder von jenen längst vergangenen Tagen waren während Laoghaires Erzählung durch Niams Geist geflogen und sie hatte das Gefühl, alles deutlich sehen zu können: Der Zauberer, wie er mit gezücktem Schwert und erhobenem Stab gegen den Dämon kämpfte. Sie glaubte, den See zu sehen, dunkel und gefährlich, und hier und da brodelte es unheilvoll im tiefen, brackigen Wasser. Nebelfetzen hingen über dem trüben Gewässer und der Alte Wald ringsum schien hier noch düsterer und viel zu grün, unnatürlich grün zu sein. Vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild des Nekromanten: Groß und hager war er und gekleidet in eine schwarze Robe, wie der Zauberer eine trug, und das nur, um ihn zu verhöhnen. Sein Gesicht blieb im Schatten unter der weiten Kapuze verborgen und Niam spürte deutlich, dass das auch besser so war. Und dann sah sie die Behausung des bösen Druiden: Eine tiefe, dunkle Höhle am linken Ufer des Sees. Wie ein klaffendes Maul sah sie aus. Das riesige Maul eines längst gestorbenen und versteinerten Ungeheuers. Und dann der Dämon: Dieser war ganz schwarz mit leuchtend roten Augen und hässlichen ledernen Schwingen. Zwei Hörner ragten aus seiner Stirn und seine Füße waren Hufe mit langen Klauen. Alles wirkte so echt, so aufregend echt! Aber wie ging es bloß weiter?
Da platzte es aus Niam heraus:
„Was ist passiert, Laoghaire? Was hat er gemacht? Erzähl schon!"
Laoghaire fuhr sich nachdenklich durch den kurzen blonden Bart.
„Das ist die entscheidende Frage. Niemand weiß es. Es endete damit, dass der Zauberer mit letzter Kraft den Dämon vernichtete. Der Nekromant aber, der nun keine Chance mehr hatte, soll seinem unheiligen Leben selbst ein Ende gesetzt haben. Und noch im Sterben hat er sein letztes Werk vollbracht: Er verfluchte den Ort, an dem er gelebt hatte und damit die verbliebenen Wiedergänger. Einmal jedes Jahr werden sie sich wieder erheben und sich gegen den Zauberer stellen und das ist bis heute so. Der Fluch kann niemals gebrochen werden, auch nicht von Cathbad, denn er wurde gespeist durch das höchste Opfer: Den eigenen Tod. Und so muss der Zauberer bis zum heutigen Tag einmal im Jahr gegen die stets zurückkehrenden Untoten kämpfen.“ Laoghaire, der sich das Beste bis zum Schluss aufgehoben hatte, sah Niam an.
„Und weißt du auch, wann sich all dies zugetragen hat?", fragte er.
Kopfschütteln. Riesengroße Augen.
„Samhain. Deine Geburtsnacht."
Niam