Athanor 4: Die letzte Schlacht. David Falk

Athanor 4: Die letzte Schlacht - David  Falk


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standen ihm Tränen in den Augen. Um sich nicht zu verraten, unterdrückte er mühsam das Schluchzen, doch die Tränen konnte er nicht aufhalten. Er hatte als Einziger überlebt und keinen Grund, sich zu freuen. Es würde ihm nur neue Verdächtigungen einbringen. Warum war ausgerechnet der verräterische Sohn Piriths entkommen? Durch den Greif lag die Antwort zwar auf der Hand, aber in Anvalon würden sie dennoch zweifeln. Trotzdem musste er dorthin. Der Hohe Rat musste erfahren, was geschehen war und welche Gefahr allen Elfen drohte.

      Ungeduldig sah er zu Sturmlöwe hinüber und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Brummelnd dehnte und streckte sich der Greif und widmete sich dann dem beschädigten Flügel. Er leckte über die Federn, nagte mit den Zähnen daran herum, zog und zerrte, bis er endlich zufrieden schien. Dabei stieß er so oft gegen die Zweige, dass das Rascheln totsicher ihr Versteck verriet. Angespannt blickte Leones durch das Laub nach unten. Er befand sich zu hoch, um die Eicheln auf dem Boden zu sehen, doch einen Ork würde er entdecken. Sturmlöwes Magen knurrte. Auch Leones hätte viel für ein nussiges Brot aus Eichelmehl gegeben, und noch schlimmer war sein Durst, aber beides musste warten. Seine Tasche war leer. Nur ein Fettfleck erinnerte an die mit Öl gefüllten Flaschen. Leones wünschte, er hätte sie niemals geworfen. Vielleicht wäre er dann noch stark genug gewesen, um einen Kameraden zu retten.

      Endlich sah Sturmlöwe ihn erwartungsvoll an, als ob er wissen wollte, wie es nun weiterging. Um die Schwingen halbwegs auszubreiten und fliegen zu können, mussten sie in den Randbereich der Krone, und wie schon beim Landen brach das äußere Geäst unter ihrem Gewicht. Mit hektischen Flügelschlägen bremste der Greif ihren Sturz und befreite sich aus den Zweigen. Leones konnte sich nur festhalten, bis der heikle Moment vorüber war. Es tat gut, bei Tag zu fliegen, – nicht nur, weil Sturmlöwe bald mühelos dahinglitt. Der Anblick der Wälder beruhigte Leones. Wie ein Meer aus grünen Wogen erstreckten sich die Hügel der Elfenlande von Horizont zu Horizont. Etwas so Großes konnte nicht zerstört werden. Selbst wenn das Wild vor den Untoten floh, würden die Bäume und Bäche bleiben und ihnen Heimat sein, solange es noch einen Elfen gab. Obwohl … hatte sich nicht ungewöhnlich viel Laub verfärbt?

      Leones wollte nicht an weiteres Unheil denken. Sie brauchten Wasser, und Sturmlöwe musste jagen. Mit den vereinzelten Vögeln über den Baumkronen konnte der Greif nichts anfangen, sie waren zu klein und wendig, aber immerhin verrieten sie, dass das Wild hier noch nicht geflohen war. Doch wo sollte er landen? Auf der erstbesten Lichtung zu warten, bis sich Sturmlöwe bequemte zurückzukehren, kam nicht infrage. Er musste so schnell wie möglich nach Anvalon.

      Als er den Blick erneut schweifen ließ, fielen ihm ein Stück gen Norden silbrige Flecken im grünen Laubdach auf. Lebten hier Söhne und Töchter Ardas? Er lenkte Sturmlöwe darauf zu und entdeckte erst die Gärten, dann die Häuser eines kleinen, abgelegenen Dorfs. Offenbar nichtsahnend gingen die Bewohner ihrem Tagwerk nach. Leones landete so unvermittelt auf der Lichtung zwischen den Häusern, dass er nicht nur die Tauben und kreischende Fasane aufschreckte. »Ich bin Grenzwächter!«, rief er den Leuten zu, die überrascht von ihren Beeten und Handarbeiten aufsahen. »Untote Orks haben die Festung Nehora überrannt und könnten schon morgen hier sein. Bringt euch in Sicherheit!«

      Einen Moment lang starrten sie ihn an wie einen Geist. Die meisten von ihnen hatten vermutlich noch nie einen Greif mit Löwenhaupt oder überhaupt einen Greif gesehen. Doch dann kam Bewegung in ihre Mienen. Einige wirkten ungläubig, andere fassungslos, aber die meisten sahen alarmiert aus. Erst jetzt ging Leones auf, dass sie wohl noch nicht von der Zerstörung des Ewigen Lichts erfahren hatten, sonst wären sie nicht so unbeschwert ihren täglichen Verrichtungen nachgegangen. Sollte er es ihnen sagen? Nein. Dann hätte sie nur die Verzweiflung gelähmt, von der auch seine Kameraden befallen gewesen waren.

      »Es ist eine ganze Armee, die auf euch zumarschiert«, konterte er die aufgeregten Fragen, ohne zuzuhören. »Ihr müsst euch beeilen!«

      Manche liefen bereits los, um Angehörige aus den Gärten und dem Wald zu holen. Andere verschwanden in ihren Häusern, wo sie vermutlich ihre Sachen packten. Nur eine Frau blieb bei ihren Haselsträuchern zurück, sammelte hastig Nüsse auf und drängte die helfenden Kinder, sich zu beeilen.

      »Könnte ich auch etwas Proviant bekommen?«, fragte Leones. »Mein Greif und ich haben noch einen weiten Weg vor uns.«

      »Es wäre sehr undankbar von uns, dir nicht zu helfen«, befand die Fremde und deutete zur offenen Tür eines Hauses hinüber. »Nimm dir, was du brauchst.«

      »Danke.« Leones befahl Sturmlöwe mit einer Geste, auf ihn zu warten, und trat zögernd über die Schwelle. Als er sah, dass er allein war, fiel die Scheu von ihm ab, und er stopfte etwas Obst, Nüsse und Hirsebrot in die Tasche. Dabei fiel sein Blick auf einen Krug Wasser, den er in einem Zug leerte. Jetzt musste er nur noch eine Mahlzeit für Sturmlöwe auftreiben. Hinter dem Haus stieß er auf einen der zahmen Fasane, packte das Tier und drehte ihm rasch den Hals um. Für den Greif mochte es nur ein Appetithappen sein, aber es war besser als nichts. Er warf Sturmlöwe seinen Fang zu und ignorierte die Kinder, während der Greif die Zähne fletschte, um ihnen zu zeigen, dass er nicht bereit war zu teilen.

      Leones kehrte ins Haus zurück, um sich mit Wasser, Salz und dem Rauch des Herdfeuers von seinem Frevel zu reinigen. Als er damit fertig war, lagen von dem Fasan nur noch Schwanzfedern im Gras. Den Rest hatte Sturmlöwe verschlungen. »Denkt daran«, warnte Leones alle, die in Hörweite waren, »diese Orks sind Wiedergänger! Sie verhandeln nicht, und ihr könnt sie nicht töten. Flieht, so schnell ihr könnt!«

      Während er weiterflog, hoffte er, dass sie begriffen hatten, wie ernst es ihm war. Sollten sie versuchen, sich in ihren Häusern zu verschanzen, würden sie sterben. Wie viele Dörfer gab es wohl, die noch nichts von der Bedrohung ahnten? Er konnte nicht überall landen, wo er in der Ferne Heimbäume sah. Er hätte die Leute bitten sollen, einen Boten zu ihren nächsten Nachbarn zu senden. Bei allen Alfaren! Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen? Jetzt konnte er sich nur noch wünschen, dass sie selbst darauf kamen.

      Als die Sonne den höchsten Punkt überschritten hatte, erreichte er einen Weiler, der aus lediglich drei Häusern bestand, und verkündete die schlechte Nachricht auch dort. Dieses Mal wies er die Leute an, die Warnung weiterzutragen, während Sturmlöwe aus dem Dorfteich trank und dabei eher mit Glück als Geschick einen Karpfen erwischte. Leones befand, dass der Greif vorerst genug gefressen hatte. Von größeren Brocken würde er nur müde und schwerfällig werden.

      Um möglichst wenig Zeit zu verlieren, zog er über der nächsten Ansiedlung nur ein paar Kreise und rief den Bewohnern seine Warnungen zu. Wenn er Sturmlöwe dazu bringen konnte, die halbe Nacht weiterzufliegen, würden sie Anvalon schon morgen erreichen. Bis Sonnenuntergang trug er die Nachricht in zwei weitere Dörfer, ohne dort zu landen. Das seit Tagen ungewöhnlich stille Wetter wurde ihm langsam ebenso unheimlich wie der ständige Dunst vor der Sonne. Fast wünschte er sich, gegen Regen und Wind ankämpfen zu müssen, nur um Gewissheit zu haben, dass zwischen dem Wetter und dem Erlöschen des Ewigen Lichts kein Zusammenhang bestand. Doch es zogen keine Wolken auf, keine Brise regte sich, nur hier und dort stieg mit der Dämmerung Nebel auf.

      Sturmlöwe begann, gereizt zu grummeln. Er war müde und wollte landen. Stattdessen musste er die nachlassenden Aufwinde ausgleichen, indem er immer öfter mit den Flügeln schlug. Auch Leones wurden die Lider in der Dunkelheit schwer. Seit Tagen hatte er kaum geschlafen, und die schwere Arbeit mit Axt und Säge steckte ihm ebenso in den Knochen wie die Schlacht. »Im nächsten Dorf rasten wir für die Nacht«, versprach er dem Greif und klopfte ihm aufmunternd die Schulter. Sturmlöwe brummte. Ob er ihn verstanden hatte, wussten nur die Götter.

      Als der Mond aufging, kam zwischen den Hügeln ein See in Sicht. Das Wasser glänzte so sehr, dass Leones die mit Goldried gedeckten Dächer am Ufer übersehen hätte. Es waren die dünnen Rauchsäulen der Herdfeuer, die seine Aufmerksamkeit erregten. Nach der Sitte der Abkömlinge Ameas besaßen die aus Schilf geflochtenen Wände keine Fenster, und die Türen blieben bei Nacht geschlossen. Erst aus der Nähe sah Leones Licht durch die Ritzen schimmern.

      Er landete auf einer der Plattformen zwischen den Pfahlhäusern, die aus dem Schilfgürtel aufs Wasser hinausragten. Hinter den Türen und Wänden hörte er Stimmen und die leisen Klänge einer Flöte. Das Lied klang


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