TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов

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im Moment der Katastrophe – eben noch war die Autorin Herrin über ihre Manuskripte, persönlichen Gegenstände und Notizen, von denen nur sie selbst wusste, ob sie etwas bedeuten oder nicht. Mit ihrem Tod ist alles Vorhandene potenzielles Archivgut, und plötzlich haben andere zu entscheiden und zu begründen, was aufbewahrt wird. Alles gleichwertig? Sicher nicht. Archivmitarbeiter kassieren einiges schon bei der Sichtung oder ›entsammeln‹ es später doch noch.2 Aber nicht alles, was aufbewahrt wird, fügt sich dann sinnvoll in eine Ordnung, weil Ordnung auf Systematik beruht, während Wirrkopf und Welt sich allen Systematiken gern entziehen. Eine ausreichend detaillierte Ordnung von Dingen bildet am Ende die Welt eins zu eins ab und hilft deshalb nicht weiter, während eine weniger detaillierte Ordnung dazu führen kann, dass Einzelnes nicht mehr auffindbar ist. Darum soll es im Folgenden gehen.

      Bargfelder Bestände

      Weil ich beim Aufbau des Archivs der Arno Schmidt Stiftung nicht mitgearbeitet habe, kann ich über Einzelentscheidungen zur Systematik keine Auskunft geben. Doch da Arno Schmidt gelernter Buchhalter und ein ordentlicher Mensch war, hatte er seine Manuskripte schon zu Lebzeiten weitgehend systematisch abgelegt, wenn auch aus Platzmangel zum Teil in Kartons auf dem Dachboden. Zu seinen Werken gibt es in der Regel nur wenige Textzeugen mit Entwürfen und abweichenden Fassungen, da er schon während der ersten Niederschrift sehr genau, bis zu Details der Formulierungen wusste, wie sein Text aussehen sollte. In den ersten Jahren seiner Autorschaft verfasste er seine Entwürfe noch handschriftlich, schon weil ihm bis 1949 keine eigene Schreibmaschine zur Verfügung stand. Auf den Entwurf folgte unmittelbar das abgabereife Reinschrift-Typoskript, möglicherweise auch aus dem pragmatischen Grund, dass auf den ausgeliehenen Schreibmaschinen nicht lange gearbeitet werden durfte.

      Die von Arno und Alice Schmidt gesammelte Grafik wurde ab 2010 vom Kunsthistoriker Ole Wittmann in einer Datenbank erschlossen. Obwohl sie über lange Jahre materiellen Einschränkungen unterlagen, hatten Schmidts als Mitglieder der Griffelkunst-Vereinigung 90 Grafiken erworben; insgesamt weist die Datenbank über 500 gesammelte Stücke vom Druck bis zum Gemälde aus. Auch wenn das lebensgeschichtlich bemerkenswert ist, spielt es für Arno Schmidts Bedeutung als Schriftsteller keine große Rolle. Denn obwohl einige dieser Bilder in seinem Werk vorkommen, muss die Sammlung eher als Teil des Privatlebens gelten. Oder? Lassen sich die verschiedenen Sphären überhaupt unterscheiden? Was ist mit Schmidts Freundschaft zum Maler Eberhard Schlotter, die immerhin zum gemeinsamen künstlerischen Projekt »Das zweite Programm« führte; was mit den knapp 300 Arbeiten von Schlotter in Schmidts Nachlass? Die Entscheidung zur Katalogisierung des Bestands ging dennoch eher auf die Einsicht zurück, dass eine Kunstsammlung in einem Archiv nicht ungeordnet und unerschlossen aufbewahrt werden sollte, und nicht auf ein vermutetes Forschungsdesiderat zu Schmidts Verhältnis zu den Bildenden Künsten.

      Der textile Nachlass wurde auf Anregung des Celler Museumsverbunds erst ab 2011 von der Textilhistorikerin Gisela Soltkahn inventarisiert. Die über 1000 Stücke stammen aus der Zeit zwischen 1930 und 1983. Diese umfangreiche Sammlung von Alltagsbekleidung ›kleiner Leute‹ ist wegen ihrer Vollständigkeit wohl einmalig, und gewinnt deshalb eine textilgeschichtliche Bedeutung, die zuvor niemand vermutet hatte. Das hat nun gar nichts mehr mit Schmidts Autorschaft zu tun, oder nur insofern, dass wegen der Einrichtung der räumlich großzügigen Gedenkstätte niemand die Entscheidung treffen musste, die Kleidung des Paares zu entsorgen. Sie blieb einfach vor Ort (wie auch die Einmachgläser im Keller), ohne dass der Bestand besonders betreut worden wäre, ehe Gisela Soltkahn die textilhistorische Bedeutung der Sammlung erkannte.

      Erstaunen mag, dass es kein Inventar des Arno-Schmidt-Hauses gibt, also der eigentlichen Gedenkstätte, in dem alle im Haus gezeigten Möbel und Gegenstände verzeichnet wären. Abgesehen davon, dass die schiere Menge – wir sprechen immerhin von einem ganzen Haushalt – einen großen Aufwand verursacht hätte, wurde ein Inventar für die Arbeit der Stiftung nie als Desiderat empfunden. Alle Objekte werden innerhalb des Hauses und des noch zu Lebzeiten Arno Schmidts erbauten Archivs aufbewahrt. Es gibt kein weiteres Depot und kaum Leihverkehr, weder Zukäufe noch Abgänge. Deshalb wurde ein Inventar niemals vermisst, ebenso wenig übrigens wie ein Verzeichnis des Briefbestands, weil alle vorhandenen Briefe von und an Schmidts in Kopien im Büro jederzeit für die Arbeit zur Hand sind.

      Nichtiges Zeug