TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов
manipuliert.50 Dabei sollte Wissenschaftlichkeit nicht mit Vollständigkeit verwechselt werden.51 Geboten ist ein fragestellungsorientiertes Vorgehen, das die Relevanz des Vorgefundenen für den Forschungsgegenstand beständig reflektiert und die Verwendung der Dokumente im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung rechtfertigen kann. Zu bedenken ist dabei zugleich, dass die forschende Person mit ihrer Auswahl stets eigene Akzente setzt, sodass zum Selbstentwurf des Autors im Nachlass der vom Wissenschaftler gezeichnete Entwurf des Autors hinzukommt.52 Die Forschung schreibt an Autorbildern mit und schreibt diese fort. Gerade in Bezug auf Nachlassmaterialien – deren Zugänglichkeit und edierte Erscheinungsform im hohen Maße von einer wissenschaftlichen Aufbereitung abhängt – kann der Einfluss einer solchen Mitgestaltung erheblich sein. So wirken sich die Ordnung und Erschließung der Dokumente, die Konzeption von Editionen sowie die Auswahl einzelner Passagen in Publikationen auf die künftige Rezeption eines Autors und seiner Texte aus.53
Der Nachlass erscheint in dieser Perspektive als Material und Rahmung eines collagenartigen Selbstentwurfs, dessen Fixierung und Auslegung der Nachwelt überantwortet wird. Deshalb bleibt ein bewusster Umgang insbesondere mit Zitaten und eine Reflexion ihres Status unbedingt erforderlich: »Zitate aus Werken und Zitate aus Briefen werden sehr häufig unbekümmert nebeneinandergestellt, und man macht sich dabei vielfach nicht mehr klar, dass Briefzitate in so gut wie allen Fällen aus Texten stammen, die von ihrem Autor nicht autorisiert sind und in der Regel nie autorisiert worden wären. Der Reiz vieler Briefe, ad hoc und ad personam geschrieben, liegt in der Spontaneität ihrer Äußerung, in ihrer Privatheit, aber wer kennt später noch die Rolle des Schreibers, die des Partners, das Nichtausgesprochene, das sie verband, die Situation, in der geschrieben wurde.«54 Hinzu kommt, dass die Zugangsmöglichkeiten zu literarischen Nachlässen wesentlich beschränkter sind als zu veröffentlichten Werken und die Nachprüfbarkeit der Textausschnitte und ihres jeweiligen Zusammenhangs demzufolge nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Diese exklusive Zugriffssituation verpflichtet umso mehr zu einer verantwortungsvollen Nutzung.55 Um die Einordnung des zitierten Materials nachvollziehbar zu gestalten, empfiehlt es sich, auch hier grundlegende Elemente quellenkritischen Vorgehens zu berücksichtigen. Dazu gehören: Die Nennung des Dokumententyps und der Datierung, das Zitieren längerer Passagen, das Heranziehen mehrerer, vergleichbarer Quellen, die Rückbindung an veröffentlichte Texte sowie die Skizzierung des jeweiligen Kontextes und der Überlieferungslage.
Eine besondere Transparenz des Vorgehens ist auch deshalb geboten, da die spezifische Archivsituation, in der Archivar*innen und Philolog*innen den direktesten Zugriff auf die Bestände haben und den Vor- beziehungsweise Nachlassern die unmittelbare Kontrolle darüber entzogen ist, zu einem bedenklichen Souveränitätsanspruch der damit befassten Wissenschaftler*innen führen kann:56 die Versuchung »in den hinterlassenen Materialien des Autors gleichsam wie dieser selbst agieren zu können«.57 Werden die wachsenden Nachlassbestände automatisch als eine Legitimation der Arbeit der Philologie betrachtet, besteht zudem die Gefahr, dass diese als Selbstzweck gesetzt wird und keiner Rechtfertigung mehr bedarf.58 Anett Lütteken regt deshalb eine Diskussion an, im Zuge derer immer wieder überprüft wird, welche Rolle die Philolog*innen bei ihrer Arbeit im Verhältnis zum Urheber eines literarischen Textes einnehmen, welche Absicht die philologische Seite verfolgt und welchen Einfluss der dabei verwendete Werkbegriff auf diese Konstellation hat.59
Eine reflektierte und umsichtige Arbeit mit Vor- und Nachlässen setzt folglich eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen Relationen und Kontexten des Archivguts voraus60 und sollte folgende Aspekte in gebotener Sorgfalt prüfen:
die Überlieferungswege des Nachlasses, Umstände der Archivübergabe sowie Zeit, die seit dieser verstrichen ist,
die Form des Nachlassbewusstseins des Autors sowie sein Verständnis von Privatsphäre,
das jeweilige Verhältnis von Werk und Nachlass, die daraus resultierenden Folgen für die Ausrichtung von Forschung und Editionen sowie der dabei verwendete Werkbegriff,
die Transparenz des Vorgehens sowie die Verwendung von Zitaten unter Berücksichtigung quellenkritischer Maßgaben,
die Motive für die wissenschaftliche Arbeit mit dem Material,
die persönliche Haltung der forschenden oder edierenden Person zum Gegenstand sowie zum Nachlassbildner und die Art und Weise wie die implizite Positionierung den Umgang mit den Materialien beeinflusst,
die Verhältnismäßigkeit des potenziellen Eingriffs in die Privatsphäre des Autors durch die Veröffentlichung von Vorlass- und Nachlassmaterialien in Hinblick auf den verfolgten wissenschaftlichen Zweck.61
Wer mit literarischen Vor- und Nachlässen arbeitet, muss sich den Status dieser prekären Zeugnisse vergegenwärtigen. Nur so ist eine selbstbewusste Antwort auf die Frage möglich: Warum Germanisten ranlassen?
1 Zit. nach: Marcus Gärtner / Kathrin Passig: »Zur Entstehung dieses Buches«, in: Wolfgang Herrndorf: »Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman«, hg. von dens., Berlin 2014, S. 136. — 2 Wolfgang Herrndorf: »Arbeit und Struktur«, Berlin 2013, S. 233. — 3 Robert Musil: »Vorwort III«, in: Ders.: »Gesammelte Werke«, hg. von Adolf Frisé, Reinbek 1981, Bd. 7, S. 963. — 4 Vgl. Robert Musil: »Nachlaß zu Lebzeiten«, ebd., S. 473–475. — 5 Robert Musil: »Vorwort IV«, ebd., S. 965. — 6 Thomas Bernhard: »Korrektur. Roman«, Frankfurt / M. 1975, S. 176. — 7 Vgl. Kai Sina / Carlos Spoerhase: »Nachlassbewusstsein. Zur literaturwissenschaftlichen Erforschung seiner Entstehung und Entwicklung«, in: »Zeitschrift für Germanistik« 23 (2013), S. 619 f. — 8 Vgl. ebd., S. 607–623. Und: Kai Sina / Carlos Spoerhase (Hg.): »Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000«, Göttingen 2017. — 9 Vgl. Reinhard Mehring: »›Ein Wichtigeres für die Zukunft weiß ich nicht‹. Nachlasspolitik bei Heidegger und Carl Schmitt«, in: Detlev Schöttker (Hg.): »Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung«, Paderborn, München 2008, S. 107–123. Und: Reinhard Mehring: »Heideggers ›große Politik‹. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe«, Tübingen 2016. Sowie: Sina / Spoerhase: »Nachlassbewusstsein«, a. a. O., S. 622. — 10 Vgl. Irmgard Wirtz: »Einführung«, in: Stéphanie Cudré-Mauroux / Dies. (Hg.): »Literaturarchiv – Literarisches Archiv. Zur Poetik literarischer Archive.«, Göttingen, Zürich 2013, S. 7–10. — 11 Vgl. Ulrich von Bülow: »Papierarbeiter. Autoren und ihre Archive«, Göttingen 2018, S. 11. — 12 Kritische Passagen finden sich bei: Christine Grond-Rigler: