TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов
648 Disketten, 100 CD-ROMs, 1,1 Terabyte umfassende Dateien und wird Marbach über Jahre beschäftigen.
Das konventionelle Archiv war und ist gefährdet durch Diebstahl, unsachgemäße Lagerung, Feuer- und Wasserschaden oder Katastrophen wie im März 2009 der Einsturz des Kölner Stadtarchivs (wobei unter anderem das Verlagsarchiv von Kiepenheuer & Witsch sowie das Heinrich-Böll-Archiv vernichtet wurde). Das digitale Archiv ist anderen Gefährdungen ausgesetzt. Die Entmagnetisierung schreitet schneller voran als der Zerfall von Papier, noch schneller ist die technische Entwicklung. Inzwischen sind mit »Open Archival Information Systems« Standards für die Langzeitarchivierung digitaler Ressourcen entwickelt worden, die über die langfristige Lesbarkeit hinausgehen: Das »Archival Information Package« enthält neben den eigentlichen Daten auch verborgene Informationen zur Bearbeitungsgeschichte, um so die Integrität und Authentizität des Digitalisats zu gewährleisten.39
Galten bisher Archive als »hermetisch abgeriegelte Räume, die die alleinigen Bedingungen der Einsicht ihrer Inhalte sowie die Autorität über deren Ordnung besitzen«,40 so ist der Besuch des digitalen Archivs weder an den Ort noch an Öffnungszeiten gebunden. Der Nutzer kann sich in diesen Räumen frei bewegen und seinen Interessen nachgehen. Gewissen Vorgaben entkommt er jedoch nicht: Der Webmaster hat entschieden, welche verstreuten Materialien wie virtuell zusammengeführt werden und welche Ordnungs- und Sortierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. »Somit büßt das Archiv seine Definitionsmacht nicht ein, sondern passt seine Funktionsweisen den Anforderungen und der Logik des Raumes an«41 und verliert keineswegs die Deutungshoheit über das Archivgut.
Bekam der Benutzer früher eine Mappe mit den Dokumenten, die er im Lesesaal – mit weißen Handschuhen, unter Aufsicht – durchblättern und die Originale in die Hand nehmen konnte, muss er sich nun mit dem Digitalisat begnügen. Ein Verlust der Aura. Allein schon, dass das Material überall im ortlosen Internet einsehbar ist, bewirkt dies.42 Zudem ist es kein Relikt der Vergangenheit mehr, sondern aufbereitet und transformiert in eine abstrakte Datenstruktur. Georg Vogeler hat die Frage aufgeworfen, wieweit »das Digitale Archiv als Vermittler zwischen Entstehungszusammenhang und forschender Benutzung nicht die Anschauung von Archivgut substanziell verändert«.43
Das Original wird zum Ausstellungsobjekt, die digitale Kopie ist für die Forschung. Im Literaturmuseum unterscheidet sich das Manuskriptblatt nicht von anderen Reliquien aus dem Dichterleben. Handschriften Hölderlins oder ein Brief Kafkas konkurrieren als Schauobjekt mit Schillers Schreibfeder, dem Henkersbeil mit Christian Morgensterns »Galgenliedern« und Ernst Jüngers Stahlhelm aus dem Ersten Weltkrieg (mit Einschusslöchern). Überhaupt Waffen: Kurt Tucholskys Revolver wird in der Akademie der Künste Berlin verwahrt, die Waffe, mit der sich Wolfgang Herrndorf erschoss, in Marbach. Das Werkzeug, mit dem der Schriftsteller sein Leben beendete, besitzt das Literaturarchiv, jedoch nicht eine einzige Zeile Text von ihm.44
Die Lücke in der Bibliothek
Autoren arbeiten nicht voraussetzungslos, sie schreiben – bewusst oder unbewusst – vorhandene Literatur fort. Ihre Büchersammlung bezeugt, was sie gelesen haben und bildet oft einen Schlüssel zum literarischen Werk. Der Aussagewert von Autorenbibliotheken ist jedoch von unterschiedlicher Natur und Qualität. Sind dort Erkenntnisse über literarische Einflüsse zu gewinnen, handelt es sich um Arbeitsmaterialien, die Eingang in die literarische Fiktion fanden, oder war der Autor schlicht ein Bücherliebhaber, dessen Sammlung ein persönliches Profil aufweist? Unterscheiden muss man zunächst zwischen der realen Bibliothek, die den Weg ins Magazin gefunden hat, und der virtuellen Bibliothek, die den tatsächlichen Lektürekanon eines Autors umfasst. Autorenbibliotheken kommen meist mit dem Nachlass ins Literaturarchiv. Sie sind eine Bestandsaufnahme zum Zeitpunkt des Ablebens ihres Besitzers (sofern nicht Erben schon wertvolle Stücke verkauft oder verschenkt haben). Neben gelesenen Werken finden sich dort von Schriftstellerkollegen übersandte, oftmals gewidmete Bücher, aber auch von Verlagen oder Autoren zugeschickte Rezensionsexemplare. Die Dynamik einer Sammlung – wann und wo wurde das Buch erworben, wann und warum hat der Besitzer sich davon getrennt – bleibt meist verborgen, hat der Autor nicht entsprechende Vermerke vorgenommen.
Das Deutsche Literaturarchiv Marbach besitzt die Büchersammlungen unter anderem von Gottfried Benn, Hans Blumenberg, Ernst Jünger, Siegfried Kracauer, Martin Heidegger, Hermann Hesse und W. G. Sebald. Die dort vorhandene Bibliothek von Paul Celan umfasst 4697 Bände, doch dies ist nur ein Teil: Eine Rekonstruktion der virtuellen Bibliothek erweitert diesen Bestand um 1519 Titel, die Celan nachweislich besessen hat, die aber nicht überliefert sind. Der online einsehbare Katalog Kallías (Modul Bibliothek)45 liefert außerdem Informationen zu früheren Standorten, sogar zur ursprünglichen Aufstellungsordnung der Bücher in Paris und Moisville. Im Fall Celan ist die Relevanz der Autorenbibliothek für die Forschung seit Langem bekannt. Ein Fund der besonderen Art ist Alexander Spoerls heiterer Ratgeber »Teste Selbst. Für Menschen, die ein Auto kaufen«, die auf den ersten Blick skurril wirkende »Quelle« für die hermetischen Gedichte »Die herzschriftgekrümelte« und »Unverwahrt«.46
Bücher haben bekanntlich ihre Schicksale, in Autorenbibliotheken sind sie gebündelt. Stefan Zweigs Bibliothek umfasste Mitte der 1930er Jahre etwa 10 000 Bände, von denen heute noch rund 1300 nachweisbar sind. Obwohl nur ein Bruchteil bekannt ist, erlaubt das im Rahmen von »Stefan Zweig digital« erarbeitete Verzeichnis einen Einblick in die von Zweig wahrgenommene, gelesene und für seine Werke genutzte Literatur.47 Dabei ist zu beachten, dass die im Katalog enthaltenen Bücher zu keinem Zeitpunkt gleichzeitig in seiner Bibliothek vorhanden waren. Mit der Flucht ins Exil und der Auflösung des Haushalts in Salzburg 1936 / 1937 wurde der allergrößte Teil der Bücher verkauft oder verschenkt. Für seine neue Wohnung in London stellte sich Zweig aus ausgewählten Resten und Neuerwerbungen eine kleinere Arbeitsbibliothek zusammen. Über den eigenen Besitz hinaus nutzte er – vor allem in den Jahren des Exils – auch Bücher aus öffentlichen Sammlungen. Die Rekonstruktion der virtuellen Bibliothek wurde zur akribischen Detektivarbeit: Da nur ein geringer Teil der Bände dem früheren Besitz Zweigs durch Namenseinträge oder Widmungen auf den ersten Blick eindeutig zugeordnet werden kann, spielte bei der Katalogisierung die Ermittlung weiterer Provenienzmerkmale wie beispielsweise den in Zweigs Bibliothek benutzten Signaturen eine besondere Rolle. In den einzelnen Katalogeinträgen wurden auch die zahlreichen Standortangaben und Aufstellungssysteme festgehalten, deren Bedeutung noch nicht vollständig entschlüsselt werden konnte. Signaturreihen, wechselnde Nummernsysteme und wiederkehrende Kombinationen in thematisch ähnlichen Büchern lassen jedoch Rückschlüsse auf frühere Aufstellungen und auf Fehlstellen in den vorhandenen Beständen zu.
Nicht alles hatte Thomas Mann vor den Nationalsozialisten retten können: Gerade mal die Hälfte der Bücher aus seiner Bibliothek hatten Erika, Golo und Freunde in die Schweiz geschafft, als die Münchner Villa in der Poschinger Straße am 25. August 1933 beschlagnahmt wurde. Recherchen der Arbeitsgruppe NS-Raubgutforschung ergaben, dass die Bücher mit dem Vermerk »Herkunft unbekannt« in den Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek integriert wurden. 78 Bände, oftmals mit Widmungen versehen, konnten als Werke aus der Privatbibliothek Thomas Manns identifiziert und dem Archiv in Zürich übergeben werden.
Thomas Manns Bibliothek ist Teil des an der ETH Zürich bewahrten Nachlasses. Wobei es sich nicht um »seine Bibliothek« handelt, sondern auch die seiner Frau Katia, überdies befinden sich Bände mit dem Eigentumsvermerk von Heinrich Mann oder mit Lesespuren von Klaus Mann in der Sammlung.48 Diese Nachlassbibliothek ist durch eine Datenbank mustergültig