TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов
oder vernichten Materialien gezielt. Dieses »Nachlassbewusstsein«, das beeinflusst, wie sich Autor*innen zu ihren eigenen literarischen Archiven verhalten, beginnt die Literaturwissenschaft seit einiger Zeit historisch zu erforschen.8 Nicht nur wird untersucht, wie sich philologische und archivarische Arbeitspraktiken auf der einen sowie Schreib- und Archivierungspraktiken der Autor*innen auf der anderen Seite wechselseitig bedingen, auch ist im Zuge dessen der literarische Nachlass als eigenständiges und geformtes Konstrukt in den Fokus gerückt. Mit Termini wie »Nachlasspolitik«9 oder »Nachlasspoetik«10 sowie mit Ansätzen einer »archivarischen Hermeneutik«11 versucht die Forschung vermehrt, den literarischen Nachlass in seiner Gesamtheit und unter Einbezug seiner verschiedenen Implikationen zu betrachten. Die Problematiken jedoch, die die Arbeit mit literarischen Nachlässen und ihre wissenschaftliche Aus- und Verwertung mit sich bringen, werden dagegen nur am Rande diskutiert.12 Ein Großteil der Literaturwissenschaft scheint dem Nachlasswesen, das für die Philologie eine Existenzberechtigung darstellt,13 weitaus weniger skeptisch gegenüberzustehen als so manche Schriftstellerin und so mancher Schriftsteller.
Doch gerade in Hinblick auf den aktuellen Forschungsschub bleibt die Problematisierung der Nachlassthematik unerlässlich: Was steht zur Disposition, wenn Literaturwissenschaftler*innen nach dem Ableben eines Autors auf Texte zugreifen, die dieser aus verschiedenen Gründen zu Lebzeiten nicht veröffentlichte? Welche Probleme ergeben sich aus der spezifischen Konstitution literarischer Nachlässe für die mit ihnen arbeitende Forschung? Und welche Folgerungen sind daraus für den Umgang mit den Archivbeständen abzuleiten?14 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden für eine nachlassbezogene Umsicht plädiert, die die Reflexion des ambivalenten Status literarischer Nachlässe beinhaltet und für jedwede Arbeit mit ihnen voraussetzt.
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»Gibt es ein Vermächtnis? Was willst du mit einem Vermächtnis? Was meinst du damit? Ich möchte das Briefgeheimnis wahren. Aber ich möchte auch etwas hinterlassen. Verstehst du mich denn absichtlich nicht?«15 Dieser Wunsch, den die Ich-Figur in Ingeborg Bachmanns Roman »Malina« äußert, rückt eine zentrale Herausforderung schriftlicher Hinterlassenschaften in den Fokus: das spannungsvolle Verhältnis von literarischen Nachlässen und dem Recht auf Privatsphäre.
Betrachtet man den literarischen Nachlass als ein Gebilde, in dem sowohl das Werk als auch das Leben einer Person Niederschlag gefunden haben,16 so erscheint dieser gleichzeitig als ästhetisches sowie (kultur-)historisch-biografisches Zeugnis:17 Er belegt die Entstehung einzelner Werke und ist von literarischen Schreibweisen geprägt, während er gleichzeitig verschiedene Lebensmomente des Nachlassers im Kontext spezifischer historischer Vorgänge spiegelt: »Wer von einem Nachlass spricht, kommt ohne den Begriff der Person nicht aus; im Nahbereich der Privatsphäre bleibt das personenzentrierte Erklärungsmuster unverzichtbar.«18 Die vorwiegend schriftlichen, unikalen Dokumente und Materialien, die sich im Verlauf des Lebens bei einem Autor angesammelt haben, und die nach seinem Tod als sein literarischer Nachlass in ein Archiv übernommen werden, gehörten zum privaten Besitz des Schriftstellers – nach seinem Ableben sind sie seinem Zugriff entzogen.19 Neben Texten wie Manuskripten, Arbeitsskizzen und Überarbeitungen, die Autorschaftsentwürfe, Werkgenesen und Arbeitsweisen vermitteln, finden sich in einem Nachlass auch Textsorten wie Briefe, Tagebücher und andere Aufzeichnungen. Es handelt sich um referenzielle Texte, die sich in der Regel auf nichtfiktionale Begebenheiten beziehungsweise auf subjektive Realitäten beziehen und in denen keine fiktive Erzählerinstanz aufgerufen wird, sondern eine Schreiber- beziehungsweise eine Autorfigur in Erscheinung tritt.20 Angesiedelt sind solche Texte in einem eigentümlichen Grenzbereich, der zwischen literarisch und nichtliterarisch, privat und öffentlich changiert: »Wir haben es hier mit intrikaten Textformen zu tun, mit seltsam zwischen autobiografischem und fiktivem Schreiben stehenden Gattungen, aber auch mit Ausdrucksformen, an denen sich zentrale literaturtheoretische Fragen kristallisieren: Fragen nach der Adressiertheit von Texten, nach ihrem fiktionalen Status, nach der Stilisierung von Leben im Schreiben und nicht zuletzt nach der Medialität von schriftlicher Kommunikation, die immer dem Risiko der Nachträglichkeit und des Fehlgehens ausgesetzt ist.«21
Unabhängig davon, an wen das Geschriebene gerichtet ist, es ist potenziell immer auch für andere, die nicht direkt adressiert worden sind, lesbar.22 Diese Möglichkeit der Einsichtnahme durch Dritte steht in einem Spannungsverhältnis zu einem Anspruch auf Privatsphäre, der sich historisch mit Medien wie dem Brief oder dem Tagebuch verbunden hat.23 Hinterlassene Briefe von Autorinnen und Autoren hat Sigrid Weigel deshalb als »prekäre Zeugnisse« bezeichnet, »weil sie eine Schwelle zum Archiv besetzen, dort, wo sich persönliche Zeugnisse und intime Mitteilungen in öffentliche Dokumente verwandeln, dort, wo das Briefgeheimnis aufgehoben ist und die Leser – objektiv – zu Mitwissern oder Voyeuren werden.«24 Mit diesem Schwellenstatus benennt Weigel eine wesentliche Problematik, die alle im Rahmen einer privaten Kommunikation entstandenen Nachlassmaterialien betrifft, ungeachtet dessen, ob die Möglichkeit der späteren Veröffentlichung beim Verfassen eine Rolle gespielt hat oder nicht. Gelangen diese Selbstzeugnisse in ein Archiv, werden sie zu einer Kippfigur: Was zuerst einen bestimmten Adressaten hatte, mehr oder weniger vertraulich war, wird jetzt einer unbestimmten Öffentlichkeit zugänglich.
In der 1900 erschienenen Erzählung »The Touchstone« von Edith Wharton werden die Ambivalenzen solcher Konstellationen verhandelt: Der Konflikt der Novelle entspannt sich, als der ehemalige Liebhaber der großen Autorin Margaret Aubyn die Liebesbriefe, die Aubyn ihm schrieb, nach ihrem Tod veröffentlicht, um sich finanziell zu bereichern. In der New Yorker Gesellschaft führt die Veröffentlichung der privaten Briefe zu kontroversen Diskussionen:
»›Those letters belonged to the public.‹
›How can any letters belong to the public that weren’t written to the public?‹ Mrs. Touchett interposed.
›Well, these were, in a sense. A personality as big as Margaret Aubyn’s belongs to the world. Such a mind is part of the general fund of thought. It’s the penalty of greatness – one becomes a monument historique. Posterity pays the cost of keeping one up, but on condition that one is always open to the public.‹ (…)
›But she never meant them for posterity!‹
›A woman shouldn’t write such letters if she doesn’t mean them to be published …‹25
Ähnlich kontrovers wie die Standpunkte der Figuren in »The Touchstone«, sind auch die Positionierungen innerhalb der aktuellen Forschungsliteratur, wenn es darum geht, welche Bedeutung der Privatsphäre bei nachgelassenen literarischen Zeugnissen zukommt. Jochen Strobel beispielsweise erklärt in Bezug auf Korrespondenzen: »Der moderne Autor ist eine öffentliche Instanz; damit ist auch – wiederum seit dem Diskurs der Empfindsamkeit – jede Inszenierung von Intimität auch auf den sich konstituierenden öffentlichen Raum bezogen.«26 Laut