TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов
rel="nofollow" href="#ulink_e0de51c1-faf4-5abe-9a30-66e5bc00ecdd">26 Dennoch soll es »auf einen verborgenen Träger eingeschrieben« sein, »der nirgendwo aufbewahrt, unzerstörbar und immer abrufbar ist. Ein solcher Träger ist aber nur denkbar (…), auf keinen Fall materiell vorstellbar.« Für Groys hingegen ist das Archiv »real existierend (…) – und in diesem Sinne auch durch die Zerstörung bedroht und deswegen endlich, exklusiv, begrenzt, so daß nicht alle möglichen Aussagen in ihm vorformuliert gefunden werden können«. Die Forderung nach dem Neuen setze ein, »wenn alte Werte archiviert und dadurch vor der zerstörerischen Arbeit der Zeit geschützt werden. Wo keine Archive existieren oder sie in ihrer physischen Existenz bedroht sind, wird die Weitervermittlung der intakten Tradition vorgezogen.«27 Das Neue ist Groys zufolge »der Vollzug eines neuen Vergleichs von etwas, das bis dahin noch nicht verglichen wurde«.28 »Das kulturelle Gedächtnis ist die Erinnerung an diese Vergleiche« und es bewahrt das Neue, sofern es sich um einen neuen Vergleich handelt.
Moritz Baßler, der im kritischen Impuls gegenüber der dekonstruktivistischen Theorie Boris Groys folgt, legt seinen Untersuchungen einen »pragmatischen Archivbegriff« zugrunde. »Was nicht im Archiv ist, kann kulturwissenschaftlich nicht behandelt werden.«29 Seine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie kann hier nicht behandelt werden, angestrichen habe ich mir einen von Baßler zitierten Satz aus Wolfgang Ernsts Buch »Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung«: »Potentielle Aktualität ist der Aggregatzustand, in dem die Archivdaten verharren – eine Lage radikaler Latenz.«30 Baßler hat – ganz ohne Theorie, vielmehr als empathischer Leser – in den Autoren des deutschen Pop-Romans »die neuen Archivisten« ausgemacht.31
Das Schlusswort erhält Thomas Kling: »Alles ist Archiv. Alles ist im Begriff, Archiv zu werden.«32
Das Archiv im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit
Die Komplexität von Schriftstellernachlässen lässt sich mit den klassischen Kategorien archivarischer Erschließung nur schwer abbilden. Diente die Digitalisierung von Archivbeständen ursprünglich nur der Sicherung und Schonung der Originale, sind im digitalen Archiv aufschlussreiche Kontextualisierungen möglich. Ein Dokument im digitalen Archiv enthält, sofern es sich nicht um eine mechanische Kopie, ein bloßes PDF des Papierdokuments handelt, mehr Informationen als das Original, denn das Digitalisat ist auf Stichworte aller Art durchsuchbar und lässt sich mit anderen Texten und Quellen verlinken. Die Einbindung von Daten und Metadaten aus verschiedenen Beständen lässt Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge sichtbar werden und ermöglicht die virtuelle Rekonstruktion eines verstreuten Gesamtnachlasses.
Neue, zum Teil noch nicht abgeschlossene Projekte gelten Autorinnen und Autoren, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen mussten und nach einem Brecht-Wort die Länder öfter als die Schuhe wechselten. Um den Nachlass von Heinrich Mann einzusehen, musste man bislang Archive in Berlin und Frankfurt, Los Angeles und Moskau, Zürich und Marbach, Prag und München aufsuchen. Ein internationales Kooperationsprojekt – beteiligt sind die Akademie der Künste Berlin, wo allein 30 000 Scans angefertigt werden, die University of Southern California, das Archiv im Museum tschechischer Literatur in Prag, die Feuchtwanger Memorial Library und andere Institutionen – ermöglicht die virtuelle Zusammenführung der zerstreuten Bestände. Ganz ähnlich »Stefan Zweig digital«, ein Informations- und Forschungsportal. Es beruht auf einer Initiative des Literaturarchivs Salzburg und ergänzt die eigenen Bestände mit den in der Daniel Reed Library in Fredonia / New York und der National Library of Israel bewahrten Manuskripten. Mit »Poetic Textures: Else Lasker-Schüler Archives«33 öffnen die National Library of Israel und das Deutsche Literaturarchiv Marbach eine gemeinsame Plattform, welche die Bestände beider Institutionen digital vereint. Wer Lasker-Schülers Briefwechsel mit Martin Buber, Albert Einstein oder Thomas Mann lesen wollte, musste nach Jerusalem reisen, wer die Korrespondenz mit Sylvain Guggenheim, Franz Marc, oder Karl Wolfskehl einsehen wollte, nach Marbach. Dabei wird nicht nur das literarische Werk präsentiert, zum Beispiel das kommentierte Typoskript von »Mein blaues Klavier«, sondern die bewusst hybride Form der Kunst Else Lasker-Schülers deutlich: Die Manuskripte, Briefe, Telegramme, Fragmente, Collagen und Zeichnungen offenbaren die Auflösung von Grenzen zwischen Leben und Kunst, Schrift und Zeichnung, inszeniertem Selbst und imaginären Figuren.
»Alles erschlossen, alles digitalisiert«,34 verkündet das Thomas-Mann-Archiv an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich: gut 31 000 Korrespondenzstücke, rund 2500 Werkmanuskripte, dazu Tagebücher und Notizen, von Thomas Mann gesammelte Werkmaterialien und über 83 000 Zeitungsausschnitte. Die Datenbank Thomas-Mann-Archiv Online (ethz.ch) stellt eine elektronische Abbildung des Archivbestands dar. In einer hierarchischen Baumstruktur steht die oberste Stufe für das Thomas-Mann-Archiv; durch Öffnen der darunterliegenden Stufen werden die verschiedenen Bestände, Teilbestände, Dossiers und Einzelstücke sichtbar. Je weiter man in die Tiefe der Teilbestände geht, desto spezifischer werden die Informationen. Auf der untersten Tektonikstufe sind Informationen zum ausgewählten Dokument erfasst, verbunden mit Zusatzinformationen wie Verweisen auf andere Dokumente oder Veröffentlichungen.
Mit der detaillierten Suche können Treffer eingeschränkt werden nach Typ, Zeitraum und Suchbereich. Man kann aber auch die Volltextsuche nutzen und so durch die Bestände surfen. Bei dem Stichwort »Film« erzielt man 1391 Treffer, gibt man im Suchfeld »Film Krull« ein, reduziert es sich auf 58 Treffer. Verzeichnet wird, ob ein Brief im Original oder als Durchschlag vorliegt; gibt es dazu einen Entwurf, eine Abschrift oder ein Fragment, werden diese in einem Dossier zusammengefasst. Im Archiv nicht vorhandene, aber publizierte Briefe sind ebenfalls erfasst.
Die Digitalisate zu den Beständen sind jedoch nur im Lesesaal des Thomas-Mann-Archivs einsehbar, nicht online. Thomas-Mann-Archiv Online ist ein digitales Findbuch, das nicht den Besuch des Archivs vor Ort erspart.35 Zugleich ist es eine Plattform, die Sekundärliteratur in bisher nicht gekanntem Umfang abbildet: eine online verfügbare Ressource für die literaturwissenschaftliche Forschung.
Ein anderes Pionierprojekt gilt einem lebenden Autor: Peter Handke. Er hat seinen Vorlass an verschiedenen Orten deponiert; auf der Plattform Handkeonline36 werden sie zusammengeführt: der Bestand im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (der wiederum aus zwei Beständen, einer Privatsammlung von Handkes ehemaligem Vermieter und der vom Dichter angekauften »Chaville«-Sammlung besteht) mit den in Marbach verwahrten Notizbüchern sowie einigen »Splitterbeständen«.37 Neben dem Modul »Werke und Materialien« gibt es Themenfelder wie »Handkes Orte« oder »Werkzeuge des Schreibens«. Im Modul »Notizbücher 1971–1990« werden die 66 Exemplare aus der Zeit tabellarisch erfasst und ihr Inhalt beschrieben, dazu gibt es Beispielseiten als Faksimiles. (2017 übergab Handke dem Marbacher Archiv 154 Notizbücher aus den Jahren 1991–2015, die noch nicht öffentlich einsehbar sind.)38
War bisher von der Digitalisierung von Papier die Rede, so muss sich das Archiv zunehmend auf Born-digital-Materialien einstellen, die auf dem Computer geschrieben wurden. Damit verändern sich die Methoden zur Erschließung, Sicherung und Aufbereitung von Archivalien radikal. Ein großes Problem stellen veraltete Dateiformate dar. Nicht mehr lesbare Disketten verzeichnet das Findbuch zum Nachlass von Thomas Brasch in der Akademie der Künste. Hier sind EDV-Experten gefragt, die mit alten Floppy-Disks ebenso umgehen können wie mit den heutigen USB-Sticks und »digitale