TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов
erfasst. Der Filter »Phänomen« bietet die Unterkategorien Marginalie, Korrektur, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Unterstreichung, Anstreichung, Häkchen usw.; die Farbe der Stiftspur ist ebenso verzeichnet wie deren Ausprägung (einfach, mehrfach, ausradiert). Im Netz sind jedoch meist nur Miniaturen der jeweiligen Seiten zu sehen – auch hier gilt: »Inhalte aus rechtlichen Gründen gesperrt. Zugang vor Ort im Thomas-Mann-Archiv.«
Auch eine Bibliothek kann, wie Anke Jaspers am Fall Thomas Mann aufgedeckt hat, eine Autorschaftsinszenierung sein. Als ein ehemaliger Schulkamerad nach dem Zweiten Weltkrieg ein Thomas-Mann-Archiv in Lübeck plante, nutzte der Schriftsteller die Gelegenheit, einen Teil seiner immens angewachsenen Bibliothek abzustoßen. Er sortierte jedoch nicht aus, was ihm nicht des Sammelns wert erschien, sondern schickte im Gegenteil Erstausgaben und Übersetzungen seiner Werke, zudem Sekundärliteratur, Porträts und Darstellungen, die ihm besonders wichtig waren. Schon bei diesem ersten, noch privaten Archiv zeigte sich: »Thomas Mann konzipierte sich selbst innerhalb seines Nachlasses als handelndes Subjekt und als behandeltes (Forschungs-)Objekt.«50
Neben ihren eigenen Beständen nutzen Autoren auch öffentliche Bibliotheken. Die Ausleihvorgänge dürften aber nur noch in seltenen Fällen nachzuverfolgen sein. Im Netz wurde eine Karte aus der Bibliothek des DDR-Schriftstellerverbands angeboten, ein Buch, das nicht in der DDR zu haben war: John Dos Passos’ »Jahrhundertmitte«, erschienen bei Rowohlt 1963. Erstmals ausgeliehen wurde das Buch am 26. Februar 1964. An siebter Position: Christa Wolf. Am 16. August 1965 lieh sich Wolf das Buch aus, am 30. November gab sie es zurück. Wie alle Schriftsteller, die vor oder nach ihr den Roman entliehen, Elfriede Brüning, Rudi Stahl oder Richard Pietraß, hat Christa Wolf persönlich unterschrieben, und so wurde die graue Karteikarte zum Objekt des Autographenhandels.
Die Literaturwissenschaft hat den »Randkulturen« in letzter Zeit verstärkt ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Uwe Wirth siedelt Lesespuren »an der Schnittstelle zwischen Leseprozess und Schreibprozess« an und sieht in Anstreichungen oder Randbemerkungen »Inskriptionen, die als avant-intertextuelle Indices fungieren können«.51 Magnus Wieland setzt dagegen die These, »dass sich die wirklich produktive Lektüre nur selten in Inskriptionen niederschlägt, dass sich der durch Literatur empfangene Einfluss gerade nicht materiell belegen lässt, weil er oft unbemerkt bzw. unbewusst erfolgt«.52 Den aus der Rekonstruktion von Autorenbibliotheken zu gewinnende Erkenntniswert schätzt er entsprechend gering ein. »Was wir von Autorenbibliotheken erfahren können, ist lediglich, welche Spuren die Besitzer in ihnen hinterlassen und wie sie sich lesend selbst darin eingeschrieben haben. Welche Eindrücke sie jedoch produktiv aus ihnen empfangen haben, ist eher im Hinblick auf ihr eigenes Werk als im Rückblick auf die Autorenbibliothek zu beantworten.«53
Letzte Meldung
»Marbachs Millionenplan. Das Literaturarchiv wird um- und ausgebaut. (…) Vorgestellt wurde ein Masterplan für Neu- und Umbauten im Gesamtvolumen von 130 Millionen Euro. Dazu kam die freudige Kunde, dass aus dem Bundeshaushalt des kommenden Jahres 73 Millionen Euro Fördermittel ans DLA gehen: zur Sicherstellung der Bau- und Digitalisierungsvorhaben, denen sich (Sandra) Richter besonders verschrieben hat. (…) Fertig sein soll alles spätestens 2033, weil Marbach dann eine Landesgartenausstellung ausrichten will.«54
1 Heimo Schwilk: »Im Endlager der Literatur«, in: »Die Welt«, 29.12.2010. — 2 Hanna Engelmeier: »Selbsteinlieferung oder: Vorlass nach Marbach!«, in: »Merkur«, 2018, H. 830, S. 33–46, hier S. 43. — 3 Ulrich Raulff: »Sie nehmen gern von den Lebendigen. Ökonomien des literarischen Archivs«, in: Knut Ebeling / Stephan Günzel (Hg.): »Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten«, Berlin 2009, S. 223–232. — 4 Engelmeier: »Selbsteinlieferung«, a. a. O., S. 34. — 5 Schwilk: »Im Endlager der Literatur«, a. a. O. — 6 Das BKM unterstützte 2017 fünf Ankäufe für Marbach mit insgesamt rund 250 000 Euro, darunter waren 60 000 Euro für den Vorlass Sibylle Lewitscharoff, 87 000 Euro für den Vorlass Michael Krüger. Der Ankauf des Reclam-Verlagsarchivs wurde vom Bund mit rund 11 600 Euro gefördert. Auch zwei Nachlässe, wie man sie traditionell im Literaturarchiv vermutet, wurden erworben: Der Nachlass Bernhard von Brentanos (Bundesanteil 23 300 Euro) und der Briefwechsel Gottfried Benn / Ursula Ziebarth (über 200 Briefe, Bundesanteil 66 600 Euro). Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressemitteilung 333, 19.9.2017. — 7 Felicitas von Lovenberg: »Ein Abschied auf Raten«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 31.10.2009. — 8 Siegfried Lokatis: »Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR«, Stuttgart 2019, S. 546. — 9 Ulrich von Bülow / Sabine Wolf (Hg.): »DDR-Literatur. Eine Archivexpedition«, Berlin 2014. — 10 Michael Knoche: »Genehmigungsdruck«, in: »Süddeutsche Zeitung«, 1.8.2019. — 11 Der Vorlass Christian Kracht ist noch nicht erschlossen. Erste Einblicke bietet Jan Küveler: »Notizen zu einer Poetik des Nichts«, in: »Die Welt«, 7.12.2019. — 12 Ulrich Raulff: »Wie kommt die Literatur ins Archiv – und wer hilft ihr wieder heraus?«, in: »Sinn und Form«, 2006, H. 3, S. 403–413. — 13 Knut Ebeling / Stephan Günzel: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): »Archivologie«, a. a. O., S. 7. — 14 Ebd. — 15 Michel Foucault: »Archäologie des Wissens«, Frankfurt / M. 2020, S. 187. — 16 Ebd. — 17 Ebeling / Günzel: »Einleitung«, a. a. O., S. 18. — 18 Jacques Derrida: »Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression«, Berlin 1997, S. 12. — 19 Ebd. — 20 Ebeling / Günzel: »Einleitung«, a. a. O., S. 13. — 21 Aleida Assmann: »Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses«, München 2006, S. 344. — 22 Ebd., S. 345. — 23 Ebd., S. 134. — 24 Ebd., S. 345. — 25 Ebd., S. 134. — 26 Boris Groys: »Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie«, München 1992, S. 179. — 27 Ebd., S. 23. — 28 Ebd., S. 49. — 29 Moritz Baßler: »Die kulturpoetische Funktion und das Archiv.