TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов
in der Normalität von Briefeditionen und ›Leben in Briefen‹ geradezu auflöst.«27 Auch Lynn Z. Bloom konstatiert: »I also assert that for a professional writer there are no private writings.«28 Und sie fügt hinzu: »A professional writer is never off-duty.«29 Nach Christine Grond-Rigler hingegen »stellt jede Vorlass-Übergabe (posthum auch der Nachlass) für den Autor eine Verletzung der Intimsphäre und einen Akt der Selbstentblößung dar«30 – auch wenn die Papiere von den Autor*innen für das Archiv vorbereitet und Dokumente bewusst zurückgehalten wurden. Damit wertet sie jede Sammlung von Vor- und Nachlässen, selbst im Falle einer starken Nachlasspolitik, erst einmal als Eingriff in die Privatsphäre.31 Dementsprechend verbindet sich auch für Catherine Hobbs mit jeder Arbeit an literarischen Nachlässen, die Pflicht »to do justice to the fact that the archives are linked to a life. Personal archives were physically and intellectually part of someone’s life, a life that they, in turn, evince.«32
Was also bedeutet die persönliche Prägung der Archivmaterialien für den Umgang mit diesen?
Rechtlich wird das Archivgut aus literarischen Nachlässen durch Urheberrecht, Verwertungs- und Nutzungsrechte und nicht zuletzt durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt. Der literarische Nachlass einer Person ist vererblich (§ 1922 BGB, § 28 UrhG) und fällt siebzig Jahre lang nach deren Tod unter das Urheberrecht (§ 64 UrhG) – im Anschluss gilt er als gemeinfrei.33 Während der siebzig Jahre nehmen die jeweiligen Erben die übergegangenen Rechte wahr. Bestandteil eines Nachlasses können zudem auch Dokumente und Materialien sein, die andere, noch lebende Personen betreffen oder von anderen verfasst wurden. Durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Urheberrecht geschützt (BGHZ 13, 334), dürfen diese Dokumente, genauso wie ein Vorlass, nur mit dem Einverständnis der betroffenen Personen eingesehen und veröffentlicht werden.34
Trotz des existierenden gesetzlichen Rahmens bleiben die Spielräume der Archivar*innen sowie die der Forscher*innen bei ihrer Arbeit und der diesbezüglichen Schwerpunktsetzung groß:35 zum Beispiel hinsichtlich der Entscheidungen für oder gegen Selektionen bei der Archivübernahme, der Ausrichtung von Editionen oder der Auswahl von Zitaten bei Publikationen. Fragen der Handhabung werden jedoch nicht breiter diskutiert.36
Ändern soll das der hier vorgeschlagene Ansatz, der literarische Nachlässe, angelehnt an Weigels Formulierung, als ›prekäre Zeugnisse‹ betrachtet und das unsichere, changierende und heikle Moment ihres Status ernst nimmt. Zwar sind Vor- und Nachlässe, bedingt durch das aufkommende Nachlassbewusstsein in der Moderne und das Zusammenspiel von Philologie, Archiven und Autor*innen, mehr und mehr zu Möglichkeiten verschiedener direkter oder vermittelter Formen der Öffentlichkeitsadressierung geworden. Doch erscheint es äußerst fragwürdig, den literarisch Schreibenden deshalb das Recht auf einen privaten schriftlichen Ausdruck gänzlich abzusprechen. Sobald alle schriftlichen Zeugnisse a priori als potenziell publikationstauglich angesehen werden, schrumpft der Raum des Rückzugs und des Verborgenen für den Schreibenden. Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre, die in gesellschaftspolitischen wie philosophischen Diskursen immer wieder zu einem schützenswerten Gut erklärt wird,37 verwischt. So weist auch Bernhard Zeller darauf hin, dass »der Respekt vor der Persönlichkeit des andern, die Beachtung ihres Rechts auf einen privaten, dem Auge der Öffentlichkeit verwehrten Bereich, die am meisten ernstzunehmende Frage (ist), die sich jeder Editor zu stellen hat«.38 Was aber ist als privat zu werten? Auf ein allgemein gültiges Konzept von Privatheit kann sich nicht gestützt werden – die Auslegung, Abgrenzung und Wertung dieses Konstrukts variiert historisch, sozial und kulturell.39
Die Philosophin Beate Rössler, die die Existenz des Privaten als Bedingung für Autonomie in modernen Gesellschaften bezeichnet, unterscheidet zwischen lokaler, dezisionaler und informationeller Privatheit und führt folgende überbegriffliche Definition an:40 »(A)ls privat gilt etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem ›etwas‹ kontrollieren kann. Umgekehrt bedeutet der Schutz von Privatheit dann einen Schutz vor unerwünschtem Zutritt anderer.«41 In diese Auslegung bezieht sie die Kontrolle des Wissenszugangs zu persönlichen Daten und die Kontrolle über die eigene Selbstdarstellung mit ein.42 Informationelle Privatheit bedeutet entsprechend, die »Kontrolle darüber, was andere über die Person wissen können«.43 Zugleich betont Rössler, die Autonomie des Individuums als Prämisse der Privatheit denkend, dass die Entscheidung über das, was als privat und intim gilt, von der betreffenden Person abhängt und »nur in Grenzen verallgemeinert und objektiviert werden«44 kann.
Eine Übertragung dieses Konzepts auf die Nachlassthematik wird durch die Frage verkompliziert, ob mit dem Tod einer Person auch ihre Privatsphäre endet. Rechtlich wird dies in Bezug auf den postmortalen Persönlichkeitsschutz diskutiert. Während das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung45 nach dem Tod enden, behält die Unverletzlichkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) zunächst auch nach dem Ableben ihre Geltung. Damit werden verstorbene Personen vor »besonders schwere(n) Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsbildes«46 geschützt.47 Dieser postmortale Persönlichkeitsschutz, der stets an eine Einzelfallprüfung geknüpft ist, verliert mit zunehmender, nicht genau festgelegter Zeit an Gewicht – ein Richtwert liegt bei ungefähr dreißig Jahren.48 Der zeitliche Faktor ist hier also von besonderer Bedeutung: Während der Umgang mit Vorlässen eine besondere Diskretion verlangt, erleichtert eine zunehmende zeitliche Distanz zum Leben des Nachlassers und seiner Mitwelt die Arbeit durch den gegebenen Abstand.49 Bezieht man Rösslers Konzept von Privatheit auf die Thematik, lässt sich zudem schlussfolgern: Zu Lebzeiten eines Autors gilt das literarische Archiv als privat, da ihm die persönliche und rechtliche Kontrolle über den Zugang zu den Papieren obliegt. Die Vorlassgabe und Genehmigung des Autors zur Einsicht und Publikation kann als Autorisation und Ausübung der Verfügungsgewalt betrachtet werden – es handelt sich dann um eine selbstbestimmte Regelung. Mit dem Tod verliert der Autor einerseits die Kontrolle über seine Dokumente, kann dem Kontrollverlust aber zu Lebzeiten mittels testamentarischer Verfügungen, Sperrungen, eines Nachlassverwalters oder durch die Vernichtung einzelner Teile in einem gewissen Maß vorbeugen. Nachlasspolitische Vorsorgepraktiken, mit denen Autor*innen den posthumen Umgang mit ihren späteren Nachlässen zu steuern versuchen, müssen also nicht zwangsläufig auf Nachruhm abzielen, sie können beispielsweise auch vom Schutz der Privatsphäre motiviert sein. Um differenziert unterscheiden zu können, sind die Frage nach dem Verhältnis eines Autors zu seinem literarischen Archiv, die Art und Weise seines Nachlassbewusstseins sowie sein Verständnis von Privatheit wichtig und können Vorzeichen für einen angemessenen Umgang mit dem Hinterlassenen setzen.
In jedem Fall